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35 Stunden sind genug!

Das Verhandlungsteam für den Sozialwirtschaftskollektivvertrag macht sich für die erste Verhandlungsrunde bereit.

Die Forderung ist bemerkenswert knapp, aber deutlich: die Einführung einer 35-Stunden-Woche bei vollem Personalausgleich sowie gleichbleibendem Lohn und Gehalt. Am 29. November 2019 starteten die Kollektivvertragsverhandlungen in der österreichischen Sozialwirtschaft (SWÖ). Anders als bei vergleichbaren Anlässen, reduzierten sich die Wünsche der ArbeitnehmerInnen diesmal auf diesen einzigen Punkt. GPA-djp-Chefverhandlerin Eva Scherz brachte es auf den Punkt: „Die Beschäftigten im Sozialbereich leisten emotionale und körperliche Schwerstarbeit. Wir fordern die 35-Stunden-Woche, um die Arbeitsbedingungen in Bereichen wie Pflege und Betreuung zu verbessern.“

Harte Verhandlungen

Österreichs Bevölkerung wird immer älter, damit werden auch mehr Menschen pflegebedürftig. Bis 2030 besteht landesweit ein Bedarf an 76.000 weiteren Pflegekräften – das hat eine Studie im Auftrag des Sozialministeriums errechnet.

Rund 125.000 ArbeitnehmerInnen fallen unter den SWÖ-Kollektivvertrag, der seit 2003 jährlich abgeschlossen wird. Die Beschäftigten in der Kinder- oder Behindertenbetreuung, im stationären oder mobilen Bereich werden von vida und GPA-djp gemeinsam vertreten. Neben GPA-djp-Wirtschaftsbereichssekretärin Eva Scherz wirkt Michaela Guglberger von der vida als Hauptverhandlerin. Beide sind es gewohnt, beharrlich aufzutreten.

Vergangenes Jahr wurde erst nach sechs Verhandlungsrunden eine Einigung erzielt. Außer für die Hauptarbeitgeber – große Sozialvereine wie Volkshilfe, Hilfswerk, Lebenshilfe und Pro Mente – hat der Abschluss auch Auswirkungen auf kleinere Kollektivverträge der Branche, etwa von Caritas, Diakonie, Rotem Kreuz und SOS Kinderdorf.

Hartes Arbeitsumfeld

Für PflegerInnen im privaten Bereich gilt derzeit eine 38-Stunden-Woche, doch nur wenige arbeiten Vollzeit. 70 Prozent von ihnen sind Teilzeitbeschäftigte und der Frauenanteil beträgt ebenfalls 70 Prozent. Die Probleme sind bekannt: Die Arbeit ist psychisch und physisch hochgradig belastend. Schichtdienste und Randarbeitszeiten machen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oft schwierig, die Arbeitsintensität ist gestiegen, die Bezahlung ist ausbaufähig. Zum Leben reicht es kaum, dem intensiven Arbeitsleben folgt eine magere Pension. Und zu oft droht die Altersarmut, besonders bei Frauen, die lange in Teilzeit arbeiten. Beispiele aus der Praxis: Eine Heimhilfe, die ältere Menschen im eigenen Haushalt unterstützt, erhält für 25 Wochenstunden netto 1.047 Euro monatlich, eine Behinderten-Fachsozialbetreuerin kann für 30 Stunden mit knapp 1.350 Euro rechnen.

„Im Unterschied zu anderen Bereichen, haben wir keine Konjunkturschwäche, wir haben wachsende Beschäftigungszahlen und Konjunktur das ganze Jahr über.“
Eva Scherz, GPA-djp-Chefverhandlerin

War es früher beinahe unmöglich, einen Teilzeitjob in einem Pflegeheim zu ergattern, ist es heute eher selten, dass Vollzeitstellen ausgeschrieben werden.

Vor allem Teilzeitbeschäftigte

„Teilzeitkräfte sind im Dienstplan leichter einzuteilen“, erklärt Beatrix Eiletz den Gedankengang der Arbeitgeber. Die Betriebsratsvorsitzende der Volkshilfe Steiermark vertritt gut 3.000 Beschäftigte, 96 Prozent sind Frauen. Etwa zwei Drittel der Belegschaft arbeiten zwischen sechs und 25 Stunden pro Woche, ihr Anteil steigt. Zumeist können sie schneller einspringen und sind oft günstiger als Vollzeitkräfte. Doch auch sie gelangen an ihre Grenzen, denn oftmals werden Dienstpläne umgestoßen: „Für viele es total belastend, wenn Pläne nie so umgesetzt werden wie vereinbart“, weiß Eiletz. Dass eine Kollegin am Vormittag gefragt wird, ob sie nicht länger bleiben will, weil der Nachmittagsdienst ausgefallen ist, ist Alltag. Die Betriebsratsvorsitzende: „Für uns arbeiten überwiegend Mütter, doch gar nicht so wenige haben auch zu pflegende Angehörige – sie müssen dann im Privatleben improvisieren, damit sie für die Firma da sind.“

Frühdienst von sieben bis 13 Uhr, Pause, eine weitere Schicht von 17 bis 19.30 Uhr. Die Pause ist Freizeit, aber nur schwer zu nutzen, davon ist Roman Gutsch überzeugt. Der Betriebsratsvorsitzende der CS Caritas Socialis kennt die fordernden Dienste der mobilen Hausbetreuung – insbesondere für VollzeitmitarbeiterInnen. Die meisten fahren deshalb zweimal zur Arbeit, im Winter ein anstrengendes hin und her in Dunkelheit. Dabei ist ein Großteil der PflegerInnen und BetreuerInnen mit Leidenschaft dabei, weil die Arbeit mit Menschen sinnstiftend ist. „Man kriegt ein Danke von den KlientInnen und KundInnen“, sagt er. Freilich ächzt die Branche trotzdem unter massivem Personalmangel.

„Die Vollzeit-KollegInnen sind öfters müde und überlastet. Sie haben keine Zeit für nichts und für niemanden“, gibt die Betriebsratsvorsitzende Eilez zu bedenken. „Das steht nicht für das gute Leben, das wir mit dem Kollektivvertrag aber ermöglichen
wollen.“

Systemwechsel gefordert

Im November klärte eine Gewerkschaftskampagne über die 35-Stunden-Woche auf: mit geradezu überwältigender Zustimmung als Antwort. „Das sind keine Nine-to-five-Jobs“, weiß KV-Chefverhandlerin Eva Scherz. „Das ist harte und anstrengende Arbeit sieben Tage die Woche von null bis 24 Uhr.“ Scherz und Eilez fordern einen „echten Systemwechsel“. Schließlich sind viele Vollzeitbeschäftigte längst vom Burn-out betroffen oder ihm nahe, die TeilzeitmitarbeiterInnen haben Probleme, von ihrem Geld auch richtig leben zu können.

Genau deshalb ist der Ruf nach der 35-Stunden-Woche unüberhörbar: für TeilzeitmitarbeiterInnen bringt sie ein Plus von 8,6 Prozent, Vollzeitbeschäftigten ganze 18 Tage mehr Freizeit. „Die 35-Stunden-Woche ist der Wunsch der Menschen in dieser Branche“, sagt es Scherz nochmals deutlich. „Im Unterschied zu anderen Bereichen haben wir keine Konjunkturschwäche, wir haben wachsende Beschäftigungszahlen und Konjunktur das ganze Jahr über.“

Noch gibt es keinen Pflegenotstand, doch für ein großes Plus an engagierten Pflegekräften muss die Arbeit unbedingt attraktiver werden. Den erhöhten Bedarf wird man mit noch mehr Imagekampagnen, Kopfgeldern oder Infoveranstaltungen nicht abdecken können. „Es wäre sinnvoll, Menschen durch gute Arbeitszeitmodelle und eine bessere Entlohnung zur Pflege zu bringen“, meint Scherz, „von ihrer Leistung profitieren wir schließlich alle – später oder schon sehr bald.“

Der Beitrag ist erstmals auf kompetenz-online.at erschienen.