Zum Hauptinhalt wechseln

Eine neue Vision für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion

ein Interview mit Judith Vorbach

Judith Vorbach schrieb und verhandelte im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die Stellungnahme „Eine neue Vision für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU)“. In diesem Interview erklärt sie, was darunter zu verstehen ist und welche Auswirkungen es haben kann, wenn Wirtschaftspolitik unter sozialen Aspekten gestaltet wird.

Geführt von Sophia Reisecker

„Wirtschafts- und Währungsunion“ ist ein Begriff, der in der EU-Politik eine wichtige Rolle spielt. Aber welche Bedeutung hat die WWU für ArbeitnehmerInnen und KonsumentInnen?

Das Augenscheinlichste, was Wirtschafts- und Währungsunion bedeutet, ist die gemeinsame Währung, der Euro. In der sogenannten Eurozone sind derzeit 19 EU-Staaten Mitglied, die weiteren haben sich dazu verpflichtet, ebenso den Euro einzuführen, allerdings gibt es für Dänemark, Großbritannien und Schweden eine Opt-Out Option. Die WWU bedeutet aber auch eine engere Zusammenarbeit in der Wirtschaftspolitik, zum Beispiel die für die Mitglieder geltende und durchaus umstrittene Obergrenze für öffentliche Schulden und Defizite.

Wenn nun von der Vollendung der WWU gesprochen wird, dann heißt das ja mehr als dass alle EU-Staaten den Euro als Währung einführen …

Grundsätzlich ist bei der Vollendung der WWU schon auch das gemeint. Aber es geht zusätzlich um eine noch stärkere politische Zusammenarbeit. Es hat in den letzten Jahren mehrere Vorschläge dazu gegeben, die sind aber teilweise wieder versandet. Zum Beispiel, dass man im Rahmen des Mehrjährigen Finanzrahmens einen Stabilisierungsfondseinrichtet, aus dem Staaten bei großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten bzw. Schocks geholfen wird.  Bis jetzt findet dieser Vorschlag keinen politischen Niederschlag.

Die EWSA-Stellungnahme setzt damit an, dass es für die Vollendung der WWU vier Säulen braucht: die finanzielle/geldpolitische, die wirtschaftliche, die soziale und die politische Säule. Du betonst in der Stellungnahme, dass alle vier Säulen gleichzeitig und gleichwertig vorangetrieben werden müssen, um die WWU weiterentwickeln zu können. Ist das deiner Einschätzung nach in den letzten Jahren zu wenig geschehen? Wo gibt es Nachholbedarf?

Nachholbedarf gibt es hier auf jeden Fall! Bis jetzt konzentrierte man sich zu stark auf geld- und wirtschaftspolitische Maßnahmen, während soziale und demokratiepolitische Ziele vernachlässigt werden. Zum Beispiel schlagen wir hinsichtlich der politischen Säule vor, dass das Europäische Parlament, die Sozialpartner und die Zivilgesellschaft insgesamt stärker eingebunden werden, wenn es um zentrale wirtschaftliche und soziale Entscheidungen geht.

Bei der zukünftigen Gestaltung der WWU ist unbedingt zu beachten, dass die sozialen Aspekte in allen vier Säulen eine Rolle spielen, dass die soziale Säule selbst nochmal aufgestockt wird und dass das Bewusstsein geschärft wird, dass alle Aspekte miteinander Wechselwirkungen haben und in engem Zusammenhang stehen. Das wirtschaftliche Regelwerk ist kein Selbstzweck, sondern muss dazu dienen, dass der Wohlstand der breiten Bevölkerung gehoben wird. Eine ausgewogene Vollendung der WWU bedeutet daher aus meiner Sicht eine deutlich stärkere Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen.

Das heißt, dass die wirtschaftspolitische Säule sich stärker an sozialen Kriterien orientieren muss?

Genau. Dazu gehört etwa die stärkere Betonung von nachfrageseitigen Aspekten. Das heißt konkret, dass die Nachfrageseite, also was die Haushalte konsumieren, was Unternehmen und die öffentliche Hand investieren, stärker berücksichtigt werden soll. Dafür braucht es eine Reihe von Maßnahmen, beginnend bei der Förderung von sozialer Sicherheit, damit Zuversicht und Vertrauen entstehen, sowie hochqualitative Jobs und gute Löhne.

Eine weitere Forderung ist, dass man die Maastricht-Kriterien öffnet und die Defizitgrenzen dort nicht strikt anwendet, wo es um für zukünftigen Wohlstand notwendige Investitionen geht. Das nennen wir die „Goldene Investitionsregel“. 

Insgesamt muss die Wirtschaftspolitik deutlich stärker im Interesse von ArbeitnehmerInnen gestaltet werden. Wenn man die wirtschaftspolitische Säule sozial gestaltet, wächst die soziale Säule automatisch mit. 

Als Mitglieder der Arbeitnehmergruppe im EWSA setzt du dich natürlich für soziale Rechte ein – sehen das sie anderen Interessengruppen im EWSA auch so, dass man die wirtschaftspolitische Säule sozial gestalten muss?

Wir haben uns bei den Verhandlungen zum Beispiel bemüht, dass das soziale Fortschrittsprotokoll in die Stellungnahme aufgenommen wird. Das ist eine starke gewerkschaftliche Forderung, dass im EU-Vertrag verankert wird, dass soziale Rechte Vorrang vor den Binnenmarktfreiheiten haben. Das wurde leider von den ArbeitgeberInnen nicht akzeptiert, deswegen gibt es jetzt eine andere Formulierung: „Bemühungen um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einer soliden wirtschaftlichen Grundlage und einer starken sozialen Dimension“. Das ist ein Kompromiss, aber als Gruppe II (Anm.: Gruppe der ArbeitnehmerInnen) hätten wir uns natürlich etwas Anderes gewünscht. Aber das ist eben das Typische bei EWSA-Stellungnahmen, dass sie ein Kompromiss zwischen verschiedenen Sichtweisen und Interessen darstellen.

Welchen Beitrag kann die WWU zu sozialem Fortschritt in Europa leisten?

Im Rahmen der WWU bzw. der EU insgesamt gibt bzw. gäbe es eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung des sozialen Fortschritts. Ein Anknüpfungspunkt ist etwa die Europäische Arbeitsbehörde, um Lohn- und Sozialdumping zu verhindern. Wesentlich ist für die Anhebung des Wohlstands natürlich die Autonomie der Sozialpartner bei den Lohnverhandlungen. Ein großes Thema sind dann auch gemeinsame Mindeststandards auf hohem Schutzniveau, z.B. bei Arbeitszeit, work-life-balance, Arbeitsplatzsicherheit. Ein Ergebnis aus den Verhandlungen um die Stellungnahme war etwa, dass es auch darum geht, dass diese Mindeststandards auch tatsächlich um- und durchgesetzt werden.

Und welche Rolle spielt die geldpolitische bzw. finanzielle Säule bei der Vollendung der WWU?

Bei der geldpolitischen und finanziellen Säule geht es um die endgültige Überwindung der Finanzkrise und das Schaffen einer stabilen Finanzwelt. Aber die Gestaltung des Finanzsektors muss auch soziale und ökologische Aspekte berücksichtigen.

Finanzmarktregeln haben oft soziale und ökologische Auswirkungen. Diese Aspekte müssen stärker berücksichtigt werden. Eine weitere Lockerung der Regelungen oder ein völlig kompliziertes Regelwerk, das gleichzeitig lückenhaft ist, lehne ich ab. Mein Wunsch ist, dass auf diese Fakten ein stärkeres Augenmerk gelegt wird.

Das klingt danach, dass hier die Bankenunion eine große Rolle spielt … Was muss laut EWSA hier passieren, um Risiken so weit zu reduzieren, dass im Falle einer neuen Krise nicht wieder die Staaten die Kosten tragen müssen?

In diesem Bereich ist glücklicherweise schon einiges geschehen, wie zum Beispiel der Abbau fauler Kredite. Und es wurden verschiedene Maßnahmen gesetzt, damit Krisen nicht mehr so stark auf die wirtschaftliche Entwicklung durchschlagen – das ist aber nicht genug!

Eine der diskutierten Ideen ist, dass der Bankenstabilisierungsfonds über den ESM eine Letztsicherung hat. Darüber kann man zwar diskutieren, aber wichtig ist, dass man zuallererst den Finanzsektor in sich stabilisiert. Da haben wir in der Stellungnahme angeregt, über eine Bankenstrukturreform, das heißt ein Trennbankensystem, nachzudenken. Wichtig sind auch effiziente Finanzsektorregelungen, eine Finanztransaktionssteuer, dass man auch die Schattenbanken wieder ins Visier nimmt …

Die Stellungnahme trägt ja bereits im Titel, dass es sich um eine neue Vision handeln soll. Im Text selbst ist auch von einer positiven Vision die Rede. Was genau ist diese positive Vision?

Generell mangelt es heute einfach an positiven Zielen für inklusives Wachstum, für Bekämpfung von Arbeit für soziale Ausgewogenheit, für eine intakte Umwelt. Es gibt keine Aufbruchsstimmung oder optimistische Vision.

Wir haben uns in der Stellungnahme auf den Artikel 3 des EU Vertrags bezogen. Der strahlt einen weitaus optimistischeren Zugang an die Themen aus als wir ihn heute haben: Er spricht von einer wettbewerbsfähigen, sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt ausgerichtet ist, und spricht auch das Thema Umweltschutz an.

Wir haben uns im EWSA auf einige Zielsetzungen geeinigt. Allem voran steht natürlich ein nachhaltiges und inklusives Wachstum – wenn die Wirtschaft wächst, muss das allen Bevölkerungsgruppen zugutekommen! Dazu gehören natürlich auch qualitativ gute Arbeitsplätze mit angemessener Entlohnung. Es gibt ja Staaten, in denen der reale Lohnzuwachs unter dem Produktivitätszuwachs liegt, das ist absurd. Genauso fordern wir stabile, auf Nachhaltigkeit ausgelegte öffentliche Finanzen, da gehört für mich auch der Ausbau der Einnahmenseite dazu, also die Gestaltung der Steuerpolitik. Und um ein letztes Beispiel zu nennen: Die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele 2030 und des Pariser Klimaabkommens.

Viele Maßnahmen scheitern ja, weil derzeit zwischen den Mitgliedsstaaten große Uneinigkeit herrscht, Beschlüsse werden immer wieder vertagt. Da wäre es wichtig, dass sich die Politik wieder besinnt, dass nur Kompromissfähigkeit, Solidarität und gemeinsames Agieren Europa voranbringen können.

Die Stellungnahme wurde am 17. Juli im EWSA beschlossen – Papier kann allerdings sehr geduldig sein. Was passiert jetzt damit? Sie beinhaltet ja doch sehr wichtige Vorschläge, die vor allem den Menschen in den Mittelpunkt der Politik stellen. 

EWSA Stellungnahmen können grundsätzlich, so selbstkritisch muss man schon sein, nicht auf Knopfdruck die Welt verändern. Aber sie können neue Ideen einbringen, man kann auf Zusammenhänge hinweisen und Argumente ausformulieren. Und immerhin ist das dann ein Kompromiss zwischen den Sozialpartnern und zivilgesellschaftlichen Gruppen – in diesem Sinn hat das durchaus Gewicht. Und ich werde mich natürlich weiter aktiv in die Diskussion einmischen, in Form von Artikeln, Vorträgen und Gesprächen zum Beispiel mit PolitikerInnen. Dabei habe ich ab nun auch ein Dokument einer offiziellen Institution der EU zur Hand, welches mit sehr breiter Mehrheit verabschiedet wurde.

Zur Person: Judith Vorbach ist Ökonomin und EU-Referentin der Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik der AK Oberösterreich. Seit 2018 ist sie Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA).