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Eine trügerische Erfolgsgeschichte

Die Slowakei: Wachstumsmodell mit hohen sozialen Kosten

Anhand der veröffentlichten Wirtschaftsdaten könnte man glauben, die Slowakei wäre eine einzige Erfolgsgeschichte. Das BIP ist seit der Teilung der Tschechoslowakei 1992/93 jedes Jahr gewachsen und beträgt heute 22.622 € je EinwohnerIn. Die landesweite Arbeitslosigkeit beträgt nur mehr 7,74% und gemessen an der Einwohnerzahl beherbergt die Slowakei heute die stärkste Automobilindustrie der Welt. Im Steigen begriffen sind der Mindestlohn (7,41%), die Durchschnittsgehälter (3,18%) und der formelle Bildungsgrad, die Dauer von gerichtlichen Verfahren und Kriminalitätsrate sinken.

Ein zweiter Blick lohnt sich

Trotz der guten statistischen Daten gibt es an der slowakischen Entwicklung, vor allem aus Gewerkschaftssicht, immer noch einige größere Kritikpunkte.

  • Das Ost-West-Gefälle: Bedingt durch die schlechtere Infrastruktur im Osten des Landes und der daraus resultierenden Investitionskonzentration im Westen sind die Gehälter im Osten heute um bis zu 40% niedriger als im Bezirk Bratislava, die Arbeitslosigkeit erreicht in manchen Bezirken fast das neunfache der "besten" Bezirke (2,61 und 24 % Arbeitslose).
  • Die Situation der Roma: In 17 von 79 Bezirken der Slowakei liegt der Anteil der Langzeitarbeitslosen um mehr als 20mal höher als im EU-Schnitt, die räumliche Verteilung innerhalb des Landes legt nahe, dass viele Arbeitslose zur Minderheit der Roma gehören. Die Situation der Roma ist aufgrund mangelnder Daten schwer zu evaluieren aber der Lebensstandard ist niedrig.
  • Die Löhne: Zwar steigen die Löhne in der Slowakei kontinuierlich, aber auch hier bringt ein zweiter Blick Defizite zum Vorschein. Während das slowakische BIP inzwischen bei 77 % des EU-Schnitts liegt, liegt die Lohnquote bei 38 % - bereinigt bei 46,1 % - im EU-Vergleich.
  • Das soziale Netz ist dünn: Während das offizielle Existenzminimum für Einzelpersonen bei rund 200€/Monat liegt, beträgt die slowakische "Mindestsicherung" - an deren Erhalt 32 Stunden gemeinützige Arbeit pro Monat geknüpft sind - 61,60€, die Familienbeihilfe nur 23,52€.
  • Der Brain Drain: Ein sehr großer Teil der jungen Slowakinnen und Slowaken sucht sein Glück im Ausland. Dieses Phänomen gibt es auch in anderen "neuen" EU-Mitgliedersländern und wie auch dort liegt es neben anderen Faktoren hauptsächlich an der Perspektivlosigkeit und dem niedrigen Lohnniveau.

Die Automobilindustrie - Segen und Fluch

Mit üppigen Subventionen konnte in den letzten Jahrzehnten die Produktion großer Autobauer - VW, PSA, KIA und Land Rover/Jaguar - in's Land gelotst werden. Diese Industrie ist der Motor der slowakischen Wirtschaft, die Abhängigkeit von einer einzigen Sparte wird jedoch zunehmend auch als Problem sichtbar.

Einem Einbruch der Verkaufszahlen folgte ein Einbruch der Produktionszahlen 2008, in Folge wurden "alternativlose" flexible Arbeitszeitmodelle eingeführt. Die Nachfrage und die Produktion haben sich erholt, die "Notmaßnahmen" von damals gelten weiterhin. Die Nachfrage nach niedrig qualifizierten Arbeitskräften führt zu einem rasanten Anstieg des Imports billigerer Arbeit aus dem Ausland.

Bestrebungen zur Verbesserung

Glücklicherweise sieht die Regierung diesen Entwicklungen nicht untätig zu. In den letzten Monaten gab es Vorstöße, ein 13. Gehalt einzuführen und den Mindestlohn um weitere 13% zu erhöhen. Eine Besteuerung von Dividenden wurde beschlossen, außerdem gibt es Bestrebungen, die kollektivvertragliche Abdeckung, die derzeit nur 25% beträgt, zu erhöhen.

Die Gewerkschaften

Das größte Problem der slowakischen Gewerkschaften scheint momentan eingedämmt: Die sinkenden Mitgliederzahlen konnten gestoppt werden und haben sich bei einer Organisationsrate von 260.000 Beschäftigten oder knapp 10,3% eingependelt. Allerdings sind die überbetrieblichen Gewerkschaften schwach finanziert und zersplittert, viele Betriebe haben eine Gewerkschaft aber arbeiten mit keinem Dachverband zusammen. Erst kürzlich spaltete sich die VW-Gewerkschaft mit 7000 Mitgliedern von ihrem bisherigen Dachverband ab.

Auch die Dienstgeberseite ist zersplittert, eine Vielzahl an freiwilligen Interessensverbänden erschwert eine funktionierende Sozialpartnerschaft und verhindert systematische Zusammenarbeit.

Fazit

Der wirtschaftliche Fortschritt des Landes ist unverkennbar, aber der soziale Preis dafür ist hoch und ein gerechter Interessensausgleich dringend notwendig. Die Slowakei steht an der Gabelung zwischen einer sozialen Marktwirtschaft und einem "Tigerstaat", die nächsten Jahre werden zeigen ob Politik und Gewerkschaften die Herausforderungen und Chancen des wirtschaftlichen Wachstums nutzen können.