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Gesamteuropäische Richtungswahl

Warum die Europawahlen am 26. Mai 2019 viel wichtiger sind, als manche glauben

Dieses Gastkommentar erschien im Mitgliedermagazin KOMPETENZ, Ausgabe 1/2019

Autor: Robert Misik

Im neuen Europaparlament, das am 26. Mai gewählt wird, werden voraussichtlich 705 Abgeordnete sitzen. 20 davon aus Österreich – also Abgeordnete von SPÖ, ÖVP, FPÖ, Grünen und vermutlich der Neos. Womöglich wird auch die Liste Jetzt antreten. Je nach Wahlausgang wird wohl kaum eine Partei in Österreich mehr als 5 bis 6 Mitglieder ins Europaparlament entsenden. Da ist natürlich die Versuchung groß, diesen Wahlen keine sonderliche Bedeutung zuzumessen. Ob, beispielsweise, die ÖVP oder die SPÖ 4, 5 oder 6 Abgeordnete in das Reiseparlament entsendet, das zwischen Brüssel und Straßburg pendelt, scheint für die Mehrheitsverhältnisse relativ unerheblich. Und was dieses Europaparlament so tut, weiß sowieso kaum jemand genau. Die Wahlbeteiligung ist deswegen auch üblicherweise recht niedrig – bei den vorigen Wahlen gingen gerade einmal 45 Prozent der Wahlberechtigten in die Wahllokale. Aber so unbedeutend scheint die Sache dann doch nicht zu sein – alle Parteien rüsten sich zu einer Wahlkampfschlacht, nervöse Stimmung macht sich breit, allgemeine Gereiztheit. Diese Europawahl wird sich wie eine gesamteuropäische Richtungswahl anfühlen. Und was sich wie eine Richtungswahl anfühlt, das ist dann auch eine.

Richtungswahl für oder gegen Nationalismus

Die Europäische Union ist im vergangenem Jahrzehnt durch tiefe Täler gegangen. In den EU-Institutionen haben viel zu oft unternehmensfreundliche Politiker und PolitikerInnen das Sagen, und auch Technokraten, bei denen der neoliberale Geist mit seinen Ideen von den segensreichen Wirkungen von täglicher Konkurrenz, von ungeschützten Arbeitsmärkten, von „Flexibilisierung“ und „Deregulierung“ zum üblichen Ton gehört. Dafür sorgen auch die einflussreichen Lobbys der Konzerne und der Reichen, deren Vertreter sich in Brüssel auf die Zehen steigen, so zahlreich sind sie. Infolge der Finanzkrise ist diese Politik noch radikalisiert worden: Die Banken und die Vermögen der Vermögenden wurden gerettet, die normalen Leute durften dafür zahlen.

Das machte letztlich, als Reaktion darauf, auch radikale Antieuropäer stark. Wenn die Konkurrenz entfesselt wird, wird etwa auch Migration als zunehmende Bedrohung angesehen, als Bedrohung am Arbeitsmarkt, am Wohnungsmarkt. Populistische Abenteurer haben Großbritannien ins Brexit-Chaos gestürzt, mit ihrer durchaus berechtigten Kritik am Funktionieren der EU, aber ihren völlig falschen Antworten. Autoritäre Nationalisten versuchen überall, eine Zerreißprobe herbeizuführen. Von Victor Orbán in Ungarn über Leute wie Marine Le Pen, Matteo Salvini, die FPÖ und viele andere. Bisher haben sie versucht, eher nur Sand im Getriebe der Europäischen Union zu sein. Aber mittlerweile sitzen sie in vielen Regierungen, als Vizepremiers in Schlüsselämtern. Sie wollen nicht mehr bloß mit nationalistischen Parolen Stimmen gewinnen – sie wollen die Europäische Union übernehmen oder zumindest in ihrem Geist umformen.

Deswegen wird sich diese Europawahl wie eine Richtungswahl anfühlen, von Deutschland bis Schweden, von Griechenland bis Österreich. Die Nationalisten, die die europäische Integration zerstören wollen, gegen jene, die sie auf irgendeine Weise positiv weiterentwickeln wollen.

Europawahlen sind aber auch immer innenpolitische Testwahlen. Hält die Zustimmung zur Regierungspolitik? Kann die Opposition Boden gutmachen? Auch für Fragen wie diese ist eine EU-Wahl immer ein Test. In Österreich etwa werden die Regierungsparteien sehr genau beobachten, wie sich ihre Sozial- und Arbeitsmarktpolitik (12-Stunden-Tag, Vorbeiregieren an den Sozialpartnern, Kürzungen bei der Mindestsicherung, Machtverschiebungen bei den Krankenversicherungen etc.) auf ihre Wahlergebnisse auswirkt.

Es ist wichtig, wer im EU-Parlament sitzt

All das gibt einer Europawahl eine viel größere Bedeutung, als sie auf den ersten Blick haben mag. Noch wichtiger ist aber: Das Europaparlament hat heute viel mehr Einfluss als noch vor wenigen Jahren. Weite Teile der Wirtschaftspolitik, der Arbeitsmarkt-, aber letztlich auch der Sozialpolitik werden durch EU-Regeln beeinflusst. Über die Hintertür der Wettbewerbspolitik werden Regeln, die ArbeitnehmerInnen schützen, untergraben. Das Europaparlament hat dabei sehr viel mitzureden. Und im Europaparlament gibt es, anders als etwa in nationalen Parlamenten, nicht die festen Parteiblöcke, die sowieso geschlossen abstimmen. Deswegen können ja Lobbyisten, die die Parlamentarier bearbeiten, so viel ausrichten, wenn sie nur an die aus ihrer Sicht „Richtigen“ geraten. Einzelne Parlamentarier, eine Handvoll Abgeordnete, können sehr viel bewirken. Je komplexer manche Materien sind, umso leichteres Spiel haben gut organisierte Lobbys, weitreichende Beschlüsse an den Abgeordneten vorbeizuschummeln, ohne dass vielleicht gleich auffällt, was diese an Machtverschiebungen von ArbeitnehmerInnen zu Konzernen bewirken.

Deshalb ist es auch so wichtig, dass Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter für das Europaparlament kandidieren, gewählt werden, dort präsent sind. Weil auch einzelne Abgeordnete, die auf der Seite der normalen Leute stehen, sehr viel bewirken können. Aber auch, weil die Einflussmacht in den Brüsseler Institutionen und den vielen Forschungsinstituten, Denkfabriken und Lobbys, die Druck machen, sowieso sehr ungleich verteilt sind. Gewerkschaften beispielsweise, werden nie so viele Ressourcen an Geld und Köpfen mobilisieren können wie Banken oder Stiftungen von Konzernen. Deswegen zählt jede Einzelne und jeder Einzelne, der im Europäischen Parlament Gegenstimme und Gegenmacht ist. Parlamentarier, die mit Energie bei der Sache sind, können viel bewirken, etwa in Hinblick auf mehr Steuergerechtigkeit oder soziale Mindeststandards, aber sie haben auch eine Aufgabe als „Wachhund“, wenn sich Unternehmenslobbys wieder neue Privilegien zuschanzen wollen. Von Regeln gegen Lohndumping bis zur Verhinderung von Verschlechterungen bei Arbeitsbedingungen für Lkw-FahrerInnen, es sind immer die GewerkschafterInnen im Parlament, die hier mit langem Atem wichtige Dinge durchsetzen oder Fehlentwicklungen verhindern.