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Wer, wenn nicht die EU, kann den Klimawandel gestalten?

Beschäftigte müssen zentrale Akteur:innen bei der Gestaltung des Klimawandels in der EU sein

Der Klimawandel verändert unsere Wirtschafts- und Arbeitswelt. Nur mit europäischen Zukunftsinvestitionen können wir im technologischen Wettbewerb mit den USA und China bestehen. Außerdem muss die Mitbestimmung der Beschäftigten bei diesen Veränderungsprozessen sichergestellt sein. Wer, wenn nicht die EU, kann diese Veränderungen politisch gestalten?

Klima- und Strukturwandel in der europäischen Arbeits- und Wirtschaftswelt

Dürren, Missernten und enorme Schäden durch Extremwetterereignisse werden immer häufiger. Der menschenverursachte Klimawandel ist eine Realität, die vor Ländergrenzen keinen Halt macht und tiefgreifende Maßnahmen auf allen Handlungsebenen benötigt. Die Klimakrise droht, unseren Wohlstand und unsere Lebensgrundlagen zu gefährden.

Es ist daher nur logisch, dass die Europäische Union mit dem „European Green Deal“ gemeinschaftlich auf diese zentrale Herausforderung eingeht, mit dem Ziel, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. Der European Green Deal bildet die Basis der Politik eines gerechten Strukturwandels und umfasst auch den Fonds für einen gerechten Übergang (just transition fund), den die Gewerkschaften erkämpft haben.

Wir befinden uns bereits inmitten des Strukturwandels hin zu einem CO2-neutralen Europa. Inzwischen sind nahezu alle Branchen und Unternehmen davon betroffen. Das stellt Gewerkschaften, Betriebsrät:innen und Beschäftigte vor völlig neue Herausforderungen. Es ist gleichermaßen technisches, wirtschaftliches, organisatorisches und rechtliches Verständnis gefragt.

Unser Anspruch als Gewerkschaft GPA ist es, diese Transformation aktiv mitzugestalten. Denn es liegt an uns allen, ob der Strukturwandel zum Nutzen Beschäftigter sein wird oder ob es nur darum geht, den Wirtschaftsinteressen gerecht zu werden.

Eine europäische Industriepolitik zur Steuerung des Strukturwandels

Um die EU-Vorgaben zur Klimaneutralität zu erreichen, müssen die Emissionen der Industrie bis 2050 um 90% reduziert werden. Dieser Prozess darf nicht zu einer Deindustrialisierung Europas führen, sondern muss eine nachhaltige und international wettbewerbsfähige europäische Industrie hervorbringen. Das ist auch für die Sicherung von Arbeitsplätzen von großer Bedeutung, denn mehr als 30 Millionen Menschen sind in der EU im Industriesektor tätig. Um dies zu gewährleisten, bedarf es einer unterstützenden europäischen und nationalen Industriepolitik, die ein entsprechendes Umfeld schafft.

Klar ist: Die Herausforderungen, die sich durch die Bekämpfung der Klimakrise für unsere Arbeitsmärkte ergeben, sind enorm. Da dies uns alle betrifft, ist eine demokratische Planung dieses Prozesses von entscheidender Bedeutung. Beschäftigte und deren Vertretungen müssen in jeder Phase des Strukturwandels einbezogen werden.

Eine strategische Industriepolitik sollte die industriellen Veränderungen unterstützen sowie Investitionen in die Ökologisierung der Industrie fördern. Sie muss außerdem auf die zentralen Stärken Europas setzen, das heißt auf hochqualifizierte und engagierte Arbeitskräfte und ein Sozialmodell zur Unterstützung von Mitbestimmung und Kompetenzentwicklung, sozialen Dialog und auf einen gut entwickelten, Standards setzenden Binnenmarkt.

Um eine demokratische und strategische Industriepolitik sicherzustellen, fordern wir auf EU-Ebene:

  • Industriepolitische Programme und Finanzierungsmittel wie die Industriestrategie, der grüne Industrieplan oder der Mechanismus für einen gerechten Übergang auf EU-Ebene, sollen eine demokratische Politikplanung sicherstellen. So sollen öffentliche sowie private Investitionen in Schlüsseltechnologien und den Strukturwandel von Industriesektoren und -standorten sowie Transformationswege garantiert werden.
  • Eine substanzielle Stärkung des just transition fund für einen gerechten Strukturwandel zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Der bisherige Umfang von ca. 19 Mrd. Euro ist ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man bedenkt, wie viele kohle- und CO2-intensive Regionen vom Strukturwandel betroffen sind und Mittel aus dieser Finanzierung benötigen werden.
  • Die vollumfängliche Einbindung der Sozialpartner bei der Gestaltung der europäischen Industriepolitik.
  • Eine Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten, unter zwingender Einbindung der Sozialpartner umfassende Pläne für einen gerechten Strukturwandel im Zusammenhang mit nationalen Energie- und Klimaplänen zu entwickeln.

Die Finanzierung des Strukturwandels sicherstellen

Die EU-Klimaziele erfordern höhere öffentliche Ausgaben für Klimaschutz und damit verbundene Maßnahmen. Das EU-Haushaltsregelwerk muss daher schrittweise reformiert werden, um die notwendigen Investitionskapazitäten der Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Denn mit einem rein marktorientierten Ansatz wird der Strukturwandel der EU-Industrien nicht gelingen.

Das Wettbewerbsrecht und die Vorschriften für staatliche Beihilfen müssen es den Mitgliedstaaten ermöglichen, die Industrie auf ihrem Weg zur Klimaneutralität zukünftig besser zu unterstützen. Erforderlich sind massive öffentliche und private Investitionen in neue Technologien sowie Forschung und Entwicklung. Die Regierungen müssen Investitionen in CO₂-arme und intelligente Technologien fördern und die Schaffung neuer Wertschöpfungsketten unterstützen.

Öffentliche Mittel und staatliche Beihilfen müssen aber auch an soziale Bedingungen geknüpft sein, um den Erhalt und das Schaffen guter Arbeitsplätze sicherzustellen und einen Mehrwert für die gesamte Gesellschaft zu schaffen.

Um eine solide Finanzierung des Strukturwandels sicherzustellen, fordern wir auf EU-Ebene:

  • Eine Reform des EU-Haushaltsregelwerks (Economic Governance), die einen gerechten Strukturwandel tatsächlich unterstützt sowie faire Steuer- und Preispolitik vorantreibt. Die Anfang 2024 erzielte Einigung zur Reform des EU-Haushaltsregelwerks wird diesen Erwartungen nicht gerecht und gefährdet die Umsetzung des European Green Deal.
  • Ein angepasstes Wettbewerbsrecht sowie ein überarbeiteter Rahmen für staatliche Beihilfen, die dem Ziel des Strukturwandels folgen.
  • Eine EU-Finanzierungsstrategie für den gerechten Strukturwandel zur besseren Unterstützung des Wandels in den europäischen Regionen.
  • Eine stärkere Ausrichtung der Europäischen Struktur- und Investitionsfonds auf die Anforderungen des Strukturwandels, damit Industrieunternehmen mit finanziellen Mitteln in ihren Wandlungsprozessen unterstützt werden können.

Stärkung des sozialen Dialoges und kollektiver Verhandlungsmodelle

Um gute Beschäftigungsbedingungen in den betroffenen Sektoren und Unternehmen zu gewährleisten, sind wirksamer sozialer Dialog und starke kollektive Verhandlungsmodelle, wie wir sie bspw. aus Österreich kennen, aber eben nicht europäischer Standard sind, von entscheidender Bedeutung. Nur so kann garantiert werden, dass die Arbeitsplätze, die durch den Strukturwandel verloren gehen, durch gleichwertige Jobs ersetzt werden. Ein reiner Fokus auf die Anzahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze ist dabei nicht ausreichend, auch die Qualität dieser neuen Jobs – was Arbeitsbedingungen und Löhne anbelangt – ist von entscheidender Bedeutung.

Die EU und die Mitgliedsländer müssen wirksame Maßnahmen ergreifen, um die Sozialpartner in ihren Bemühungen zu unterstützen, Lösungen zu verhandeln, die negative Folgen für Beschäftigung abmildern und hochwertige Arbeitsplätze während und nach dem Strukturwandel garantieren. Dafür muss ein robustes und effektives Regelwerk geschaffen werden.

Um eine permanente und wirksame Einbindung der Sozialpartner bei Prozessen des Strukturwandels sicher zu stellen, fordern wir auf EU-Ebene:

  • Eine stärkere soziale Dimension der Klimapolitik durch Stärkung und Umsetzung der europäischen Säule sozialer Rechte und bessere Rahmenbedingungen, um gewerkschaftliche Rechte und kollektive Verhandlungsmodelle in der gesamten EU auszuweiten und dadurch die KV-Abdeckungsraten zu erhöhen.
  • Bei der Inanspruchnahme nationaler oder europäischer Fonds zur Unterstützung eines gerechten Strukturwandels sowie öffentlichen Auftragsvergaben müssen kollektive Verhandlungsmodelle als Bedingung gelten.
  • Das Bereitstellen von EU- und nationalen Mitteln für den Aufbau von Kapazitäten für den sozialen Dialog und kollektiver Verhandlungsmodelle.

Arbeitnehmer:innenrechte und Unternehmenspflichten

Der Übergang zu einer dekarbonisierten Industrie wird letztlich auf Unternehmensebene vollzogen. Von den Werkshallen bis zu den Vorstandsetagen müssen Produktionsprozesse, Investitionspläne, die Arbeitsorganisation und die Struktur der Unternehmen angepasst werden. Das bedeutet, dass alle Beschäftigten dieser Unternehmen entlang der gesamten Lieferkette davon betroffen sein werden.

Ein inklusiver und gerechter Strukturwandel kann nur erreicht werden, wenn die Beschäftigten und ihre Vertretungen ein Mitspracherecht bei allen Entscheidungen haben, die ein Unternehmen in Hinblick auf die Transformation trifft. Das betrifft insbesondere Entscheidungen, die sich auf Gesundheit, Arbeitsbedingungen, Einkommen, Arbeitsplatz und Beschäftigungsfähigkeit auswirken können. Die Beteiligung der Beschäftigten an strategischen Entscheidungen auf lokaler, nationaler und europäischer Ebene spielt daher eine wichtige Rolle. Nur so werden der Schutz der Arbeitnehmer:innenrechte und eine sozialverträgliche, vorausschauende Bewältigung des Strukturwandels sichergestellt werden können.

Bedauerlicherweise haben sich die bestehenden europäischen Instrumente als unwirksam erwiesen, den Beschäftigten ein Mitspracherecht bei Unternehmensentscheidungen zu geben, damit die Unternehmen eine wirklich zukunftsorientierte und nachhaltige Perspektive einnehmen.

Es fehlt allzu oft an einem vorausschauenden Ansatz der Unternehmen. Anstatt langfristige Produktions-, Kompetenz- und Beschäftigungsplanung anzugehen, wird meist weiterhin auf kurzfristige Profitmaximierung gesetzt. Die Beteiligung der Beschäftigten erfolgt, wenn überhaupt, nur der Form halber: Bei einem Drittel der Umstrukturierungen in Europa werden weder Gewerkschaften noch Belegschaftsvertretungen beteiligt. Ein gerechter Strukturwandel erfordert daher ein ganzes Bündel an Rechten für Beschäftigte und Verpflichtungen für Unternehmen.

Um Arbeitnehmer:innenrechte und Unternehmenspflichten beim Strukturwandel sicherzustellen, fordern wir auf EU-Ebene:

  • Einen EU-Rechtsrahmen zur Bewältigung des Strukturwandels auf Unternehmensebene, der verbindliche Regeln für die Beteiligung von Gewerkschaften und Belegschaftsvertretungen sowie soziale Garantien für die Beschäftigten vorsieht.
  • Verpflichtende Pläne für einen gerechten Übergang in allen vom Strukturwandel betroffenen Unternehmen unter umfassender Einbeziehung von Gewerkschaften und Belegschaftsvertretungen.
  • Soziale Auflagen für nationale oder EU-Mittel, von denen Unternehmen profitieren, um sicherzustellen, dass die industriellen Strategien der Unternehmen Rechte der Beschäftigten achten.

Hochwertige Berufsbildung und lebenslanges Lernen

Das Erreichen der Klimaneutralität bis 2050 setzt geeignete Rahmenbedingungen zur Unterstützung der Übergänge von einem Arbeitsplatz zum anderen voraus. Daher müssen wir in unsere Bildungssysteme investieren und sie stärken, um die neuen Schulungs- und Weiterbildungsprogramme zu entwickeln, die für die sich verändernden und neu entstehenden Berufsprofile erforderlich sind.

Eine zentrale Herausforderung ist darüber hinaus der steigende Bedarf an Fach- und Arbeitskräften. Dieser erfordert eine umfassende Strategie, um Menschen für dekarbonisierte Industrien zu qualifizieren. Dies umfasst auch flankierende Maßnahmen, um Frauen verstärkt in technische Berufe zu bringen, wie bspw. Ausbau der Kinderbildungseinrichtungen mit Nachmittagsbetreuung.

Unternehmen sollen dazu verpflichtet werden, in Abstimmung mit den Belegschaftsvertretungen langfristige Beschäftigungs- und Weiterbildungsstrategien zu entwickeln. Zusätzlich zu einer solchen verpflichtenden Kompetenzplanung auf Unternehmensebene müssen neue Rechte vorgesehen sein: Jede:r Arbeitnehmer:in muss ein persönliches Recht auf Qualifizierung und Weiterbildung und auf bezahlten Bildungsurlaub haben. Angebote für lebenslanges Lernen in allen Phasen der beruflichen Laufbahn sind von zentraler Bedeutung, um den Verlust von Kompetenzen zu verhindern und die Beschäftigungsfähigkeit jede:r Einzelnen beim industriellen Strukturwandel zu erhalten und zu fördern.

Um neuen Qualifikationsanforderungen durch hochwertige Berufsbildung und lebenslanges Lernen gerecht zu werden, fordern wir auf EU-Ebene:

  • Einen EU-Rechtsrahmen zur Bewältigung des Strukturwandels, der ein persönliches Recht auf Qualifizierung bzw. Weiterbildung und lebenslanges Lernen vorsieht.
  • Die Verpflichtung zur Entwicklung einer strategischen Beschäftigungs- und Kompetenzplanung auf Unternehmens-, Branchen- und regionaler Ebene unter umfassender Einbeziehung von Gewerkschaften und Belegschaftsvertretungen.
  • Eine Schlüsselrolle für die Gewerkschaften bei der Gestaltung von Kompetenzstrategien und des Qualifizierungsbedarfes für den Strukturwandel auf allen Ebenen.
  • Investitionen der Unternehmen in eine zukunftssichere Fachkräftebasis und das „Halten“ qualifizierter Arbeitnehmer:innen. Dazu sind Instrumente wie Stiftungen und andere arbeitsmarktpolitische Leistungen notwendig.