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Europäische Mindestlohnrichtlinie beschlossen: Lohnerhöhungen für 24 Mio. Beschäftigte möglich

MANUEL STOLZ ist in der Gewerkschaft GPA als politischer Mitarbeiter in der Abteilung Europa, Konzerne und Internationale Beziehungen beschäftigt.

Portrait von Manuel Stolz, Mitarbeiterin der Gewerkschaft GPA

In der EU kommt es scheinbar zu einem Paradigmenwechsel. Es wirkt, als gäbe es eine neue Sicht auf Mindestlöhne und Kollektivverträge. Im Arbeitsmarktbericht der EU-Kommission war 2012 noch die Rede von „beschäftigungsfreundlichen“ Reformen, die in den Mitgliedstaaten notwendig wären. Der Bericht war von einem streng neoliberalen Geist geprägt und umfasste Vorschläge wie das Einfrieren oder Kürzen der Mindestlöhne, die Dezentralisierung kollektiver Verhandlungsmodelle und die Schwächung der KV-Bindung sowie eine allgemeine Reduzierung der Lohnsetzungsmacht von Gewerkschaften. Ganz anders liest sich der Richtlinienentwurf der EU-Kommission zu Mindestlöhnen im Jahr 2020… 

Plötzlich alles anders?

Im Vordergrund stehen soziale Ziele wie existenzsichernde Löhne, die Reduzierung von Erwerbsarmut und Lohnungleichheit: Auch ökonomische Ziele wie ein fairer Wettbewerb und politische Ziele wie die Stabilisierung der Gesellschaft in Krisenzeiten und die Stärkung der Unterstützung für europäische Integration sind enthalten. Man kann hier von einem Paradigmenwechsel sprechen: In der EU-Kommission herrscht scheinbar eine neue Sicht auf Mindestlöhne und Kollektivverträge vor. Dies gilt als klares Signal in Richtung einer EU, die sich nicht mehr nur als reine Wirtschaftsunion betrachtet, sondern auch die Anliegen der Beschäftigten stärker ins Auge fasst.

Man kann hier von einem Paradigmenwechsel sprechen: In der EU-Kommission herrscht scheinbar eine neue Sicht auf Mindestlöhne und Kollektivverträge vor. 

Der Weg zur Europäischen Mindestlohnrichtlinie

2017 verabschiedet der Europäische Rat (Staats- und Regierungschefs) die Europäische Säule sozialer Rechte. Dabei handelt es sich um 20 zentrale Grundsätze und Rechte für faire und gut funktionierende Arbeitsmärkte sowie Sozialsysteme. Zwei Jahre später kündigt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine konkrete Gesetzesinitiative zu einem europäischen Mindestlohn an. 2020 startet die EU-Kommission die Konsultationsphasen mit den europäischen Sozialpartnern und veröffentlicht in Folge einen Gesetzesvorschlag zu einer Mindestlohnrichtlinie. 2021 bearbeiten Rat und EU-Parlament den Kommissionsvorschlag und formulieren ihre Position. Heuer gab es schließlich auch eine Einigung im Trilog-Verfahren zwischen Kommission, Rat und Parlament, woraufhin im Oktober Rat und EU-Parlament die Richtlinie verabschiedeten. Die Mitgliedstaaten haben nun 2 Jahre Zeit, um die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen.

Konfliktfelder rund um die Entstehung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie 

Die Auseinandersetzung rund um die Richtlinie und ihre Entstehung war ein klassischer Klassenkonflikt: Gewerkschaften waren weitgehend dafür, Arbeitgeberverbände lobbyierten gegen die Richtlinie, beziehungsweise für eine zahnlose Regelung. Auf der politischen Landkarte waren die Positionen ebenso erwartbar: Linke Regierungen in Europa waren eher dafür, neoliberale oder rechtspopulistische Regierungen eher skeptisch oder dagegen, was auch auf Österreichs Regierung zutrifft. Institutionell waren nordische Gewerkschaften mit starken kollektiven Lohnfindungsmodellen eher dagegen, südliche und osteuropäische Gewerkschaften mit schwächer ausgeprägten kollektiven Lohnfindungsmodellen und niedrigen Mindestlöhnen eher dafür. Die österreichische Gewerkschaftsbewegung sprach sich seit Debattenbeginn dafür aus. Rechtlich wurde diskutiert, ob die EU überhaupt die rechtlichen Kompetenzen für eine Mindestlohn-Richtlinie hat. Ein Rechtsgutachten des EU-Parlaments stellte schließlich klar, dass eine Richtlinie in dieser Form zulässig ist.

Kernelement der Europäischen Mindestlohnrichtlinie: Angemessene Mindestlöhne und höhere KV-Abdeckung

Die Mindestlohn-Richtlinie darf rechtlich keine inhaltliche Harmonisierung vornehmen, ein einheitlicher europäischer Mindestlohnbetrag darf nicht festgelegt werden. Auch eine institutionelle Harmonisierung im Sinne einer europaweiten Durchsetzung gesetzlicher Mindestlöhne ist nicht möglich.

Ziele der europäischen Mindestlohnrichtlinie: Förderung angemessener Mindestlöhne

In 21 der 27 EU-Mitgliedstaaten gibt es bereits gesetzliche Mindestlöhne. Die neue EU-Richtlinie soll künftig Parameter zur Höhe und Angemessenheit dieser Mindestlöhne festlegen. Nationale gesetzliche Löhne sollen nicht unter 60% des Medianeinkommens oder 50% vom Durchschnittseinkommen liegen. Länder mit gesetzlichen Mindestlöhnen werden dazu verpflichtet, klar definierte Anpassungsmöglichkeiten für die Höhe der Mindestlöhne festzulegen, die Einbindung der Sozialpartner ist dabei sichergestellt.

Erhöhung der kollektivvertraglichen Abdeckungsraten

Die KV-Abdeckungsraten innerhalb der EU sind sehr unterschiedlich: Von etwa 6% in Estland bis zu beinahe 100% in Italien ist die Spanne groß. Jene 19 der 27 Mitgliedstaaten, in denen die KV-Abdeckung unter 80% liegt, müssen der EU-Kommission künftig jährlich Aktionspläne zur Erhöhung dieser Abdeckungsraten vorlegen. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung kollektiver Verhandlungsmodelle. EU-Länder mit funktionierenden KV-Systemen (Österreich, Schweden, etc.) werden durch Richtlinie nicht verpflichtet, nationale Mindestlöhne einzuführen. 

Das Ziel ist die Stärkung kollektiver Verhandlungsmodelle. Sie sind das beste Instrument zur Durchsetzung höherer Löhne. Insgesamt ist die Richtlinie ein großer Erfolg der europäischen Gewerkschaftsbewegung.

Lohnerhöhung für 24 Mio. Menschen in Europa möglich

Durch Maßnahmen zur Erhöhung der gesetzlichen Mindestlöhne prognostizieren Studien Lohnerhöhungen für etwa 24 Mio. Beschäftigte innerhalb der EU. Für Österreich gibt es keine unmittelbaren Auswirkungen, weil es keine gesetzlichen Mindestlöhne gibt und die KV-Abdeckung jenseits der 80% liegt. Jedoch gibt es positive Nebeneffekte für Standort und Beschäftigte, denn die Anhebung des Lohnniveaus in Europa kann den Standortwettbewerb über niedrige Löhne entspannen. Lohn- und Sozialdumping über Entsendungen aus Niedriglohnländern könnte als Geschäftsmodell unattraktiver werden. Umso verwunderlicher ist es, dass sich Österreichs Bundesregierung lange gegen die Richtlinie ausgesprochen hat.

Europäischer Gewerkschaftsbund mit Verhandlungsergebnis durchaus zufrieden

Der Europäische Gewerkschaftsbund sieht in der Richtlinie einen wichtigen Schritt in Richtung fairer und angemessener Löhne in der EU. Die Anhebung gesetzlicher Mindestlöhne in zahlreichen EU-Ländern scheint möglich, der Schutz und Ausbau kollektiver Lohnfindungsmodelle wird vorangetrieben. Kritisch sieht der EGB allerdings, dass es Ausnahmen und Abzüge bei gesetzlichen Mindestlöhnen für bestimmte Gruppen (Lehrlinge, PraktikantInnen, etc.) gibt.

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