ROBIN PERNER ist Ökonom in der Grundlagenabteilung der Gewerkschaft GPA. Neben ökonomischen Fragestellungen beschäftigt er sich mit Steuer-Recht & Politik sowie der betrieblichen Altersvorsorge.
ROBIN PERNER ist Ökonom in der Grundlagenabteilung der Gewerkschaft GPA. Neben ökonomischen Fragestellungen beschäftigt er sich mit Steuer-Recht & Politik sowie der betrieblichen Altersvorsorge.
Die Bundesregierung hat als eine der strukturellen Maßnahmen zur Entlastung der Bevölkerung eine teil-automatische Abschaffung der Kalten Progression ab dem Jahr 2023 beschlossen. Wie diese Maßnahme im Detail aussieht, was das für Beschäftigte bedeutet und wie sie sozial treffsicherer gestaltet werden könnte, wird in diesem Beitrag erläutert.
Die Kalte Progression entsteht, wenn Einkommenserhöhungen zu einer höheren Steuerbelastung führen, auch wenn diese nur die Inflationsrate im vergangenen Jahr abgelten. Wenn bei einer angenommenen Inflationsrate von z.B. 5% das Einkommen im selben Ausmaß steigt, also keine reale Lohnerhöhung stattfindet, führen die starren absoluten Grenzen in unserem progressiven Steuersystem trotzdem zu einer höheren durchschnittlichen Steuerbelastung. Dafür ist es nicht zwingendermaßen notwendig, dass das wachsende Einkommen auch in die nächste Grenzsteuer-Stufe fällt. Denn auch innerhalb der gleichen Progressionsstufe kann durch ein steigendes Einkommen ein größerer Teil von Besteuerung betroffen sein. Für Einkommensbestandteile bis ca. 1.250 EUR fällt keine Steuer an. Eine Einkommenserhöhung bewirkt, dass ein größerer Teil des Gesamteinkommens besteuert wird, dadurch steigt der Durchschnittssteuersatz. Faktisch steigt also die Steuerbelastung, obwohl der Lohn dieselbe Kaufkraft wie vor der Erhöhung hat. Gerade in der aktuellen Situation mit hohen Inflationsraten ist die Kalte Progression besonders relevant.
2/3 der Kalten Progression soll künftig durch eine automatische Anpassung der relevanten Grenzen im Steuertarif abgegolten werden - ein so genannter „Tarif auf Rädern“. Auch die relevanten Absetzbeträge (Alleinverdiener- und Alleinerzieherabsetzbetrag, Verkehrsabsetzbeträge, Pensionistenabsetzbeträge) sollen zu 2/3 der Inflationsrate angepasst werden. Das übrige Drittel wird verpflichtend aufgrund einer politischen Entscheidung diskretionär rückverteilt. Dass sich die Regierung einen Handlungsspielraum behalten möchte, um Schwerpunkte zu setzen, ist sinnvoll und richtig. Damit dieses „politische Drittel“ verteilt werden kann, ist die Erhebung des Gesamtaufkommens der Kalten Progression durch Wirtschaftsforschungsinstitute notwendig. Jedoch sollten dabei auch die recht unterschiedlichen Inflations-Betroffenheiten der verschiedenen Bevölkerungsgruppen berücksichtigt werden, um einen fairen Ausgleich zu gewährleisten. So ist weithin anerkannt, dass niedrige EinkommensbezieherInnen, junge sowie alte Personen oder derzeit aufgrund der Treibstoffpreise LandbewohnerInnen stärker von der Inflation getroffen werden.
Von der Kalten Progression sind ebenfalls nicht alle Einkommensschichten im selben Ausmaß betroffen, wie diese Grafik zeigt:
Bei einer Lohnerhöhung von 5% (ausschließlich Ausgleich der Inflation) trifft die Kalte Progression in der aktuellen Ausgestaltung unseres Steuersystems kleine Einkommen deutlich stärker. Die durchschnittliche Steuerbelastung steigt dort vor allem aufgrund der früheren Steuerpflicht und der Nicht-Anpassung der Höhe des Verkehrsabsetzbetrag (VAB). Der VAB wird für alle beschäftigten Personen im Zuge der Lohnverrechnung automatisch steuermindernd berücksichtigt. Als Absolutbetrag in Höhe von 400 € pro Jahr ist er für niedrige Einkommen ein relativ gesehen bedeutenderer Bestandteil. Eine fehlende Anpassung lässt deswegen auch die Kalte Progression bei niedrigeren Einkommen stärker wirken.
Ein „Tarif auf Rädern“ passt die festen Beträge des Steuersystems an und wächst damit im Ausmaß der Inflation mit. Das folgende Beispiel zeigt diese Anpassung um 5% nach dem Gesetzesentwurf:
Würde das komplette Steuersystem „perfekt“ an die Inflation angepasst werden, wäre die Differenz durchwegs null, d.h. der Durchschnittssteuersatz bliebe gleich. Jedoch gibt es einige Abweichungen:
Unterstellt man die plausible Annahme, dass die durchschnittliche Inflation zwar bei 5% liegt, aber die im unteren Drittel der Einkommen bei 7% und im oberen Einkommensdrittel bei 3%, lässt sich eine Unter-bzw. Überkompensation beim Ausgleich der Kalten Progression feststellen. Die untenstehende Grafik zeigt eine höhere Inflationsrate inkl. Lohnerhöhung von 7% für Einkommen im unteren Drittel bei einer Anpassung der Steuergrenzen mit der durchschnittlichen Inflationsrate von 5%. Dabei wird deutlich, dass der Durchschnittsteuersatz für Personen in dieser Gruppe trotz Anpassung der Steuergrenzen noch immer höher als vor der Lohnerhöhung liegt. Hingegen profitieren hohe Einkommen aufgrund einer niedrigeren Inflationsrate von 3% in dieser Gruppe von einem sinkenden Durchschnittsteuersatz.
Es ist daher unbedingt notwendig, bei der Abgeltung der Kalten Progression eine faire Ausgestaltung zu bewerkstelligen. Das kann entweder durch eine automatische Anpassung über der Inflationsrate in den ersten beiden Tarifstufen oder über eine gezielte Entlastung durch das „politische Drittel“ erfolgen. Wie in der GPA-Stellungnahme zum Gesetzesentwurf angemerkt, sind dafür Informationen über die genaue Inflations-Betroffenheiten verschiedener Gruppen in Österreich notwendig. Deshalb fordern wir über den Progressionsbericht hinaus auch einen Inflationsbericht, der Teuerungsraten für unterschiedliche sozioökonomische Konstellationen anführen soll.
Neben der Ausgestaltung der Steuersystem-Anpassung ist aber auch die Art der Berechnung und damit die Feststellung der Höhe des gesamtwirtschaftlich anfallenden Kalten Progressions-Aufkommens nicht unproblematisch. Um das exakte Aufkommen der Kalten Progression feststellen zu können, müsste man die Entwicklung von Einkommen und Arbeitszeit jeder einzelnen ArbeitnehmerIn von einem Jahr zum nächsten verfolgen. Solche genauen Daten existieren jedoch nicht, weswegen nur Mikro-Simulationen oder gesamtwirtschaftliche Betrachtungen der Lohnsteuerstatistik bzw. der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in Frage kommen. Bei solchen Gesamtbetrachtungen wird unterstellt, dass jeder ArbeitnehmerIn eine Lohnerhöhung in Höhe von zumindest der Inflationsrate zugeflossen ist. Da sich Unterbrechungen der Arbeit durch Arbeitslosigkeit, Karenzen oder Ausbildungen ergeben, Menschen in Pension gehen oder ihre Arbeitszeit reduzieren und dadurch geringere Einkommen haben, ist diese Annahme aber nicht unbedingt immer zutreffend. Berechnet man jedoch die Kalte Progression so, als wäre die Annahme einer allgemeinen Inflationsanpassung der Löhne korrekt, kann das Ausmaß der Kalten Progression auch überschätzt werden. Das ist für die Höhe der Anpassung der Tarifstufen und der Verteilung des diskretionären Drittel jedoch jedenfalls zu berücksichtigen. Die Herausforderung besteht also darin, den Anteil des Lohn- und Gehaltswachstums um den Effekt der reinen Inflationsabgeltung zur bereinigen, ohne diesen zu überschätzen.
Die Regierung hat nun die Details für die Anpassungen der Steuergrenzen für das Jahr 2023 im Ministerrat beschlossen und auch die Verteilung des „politischen Drittels“ festgelegt.
Die zugrundeliegende Inflationsrate von Juli 2021 bis inklusive Juni 2022 beträgt 5,2% und das gesamte Aufkommen der Kalten Progression wird auf knapp 1,85 Milliarden € geschätzt.
Der Betrag, der automatisch verteilt wird, kommt auf 1,23 Milliarden €, was einer Anhebung der Steuergrenzen und der Absetzbeträge um 3,47% entspricht. Das politische Drittel macht demnach 617 Millionen € aus und soll im Jahr 2023 dafür genützt werden, die untersten zwei Stufen mit 6,2% über der Inflationsrate zu erhöhen. Ebenfalls soll die diesjährige politische Verteilung dafür eingesetzt werden, die Absetzbeträge inkl. Einschleifgrenzen und Negativsteuerbeträge im vollen Ausmaß der Inflation zu erhöhen. Das muss im nächsten Jahr nicht wieder so passieren, da dann nur die automatische Anpassung in Höhe von 2/3 vorgegeben ist.
Die Bewertung der gewählten Erhöhung muss zweigeteilt erfolgen. Einerseits ist die Erhöhung der Absetzbeträgen und der zugehörigen Grenzen sinnvoll und zu sehr begrüßen. Denn diese sind relativ gesehen für niedrige Einkommen bedeutender und eine vollständige Inflationsanpassung hilft deshalb dort stärker.
Hingegen ist der Versuch, die Anpassung über der Inflation in den untersten beiden Stufen als besondere Maßnahme für kleine und mittlere Einkommen zu verkaufen, eine Mogelpackung. Als im vorderen Teil des Artikels zur faireren Gestaltung der Rückverteilung davon gesprochen wurde, die ersten zwei Tarifstufen höher anzupassen, ging es vordergründig um die automatische Anpassung damit eine systematische Unterkompensation beim unteren Einkommensdrittel verhindert wird. Jetzt beim politischen Drittel genau diese Maßnahme als eine besondere sozial treffsichere Entlastung zu verkaufen ist verfehlt. Denn durch die progressive Ausgestaltung unseres Steuersystems hilft eine stärkere Erhöhung der ersten beiden Stufen auch allen darüberliegenden Einkommen. Potenziell sogar stärker, wenn kleinere Einkommen nicht hoch genug sind, um überhaupt die dritte Grenzsteuerstufe erreichen. Viel sinnvoller wäre es also gewesen, die automatische Anpassung bereits so zu gestalten, dass keine Über – bzw. Unterkompensation entsteht und dann mit dem politischen Drittel Maßnahmen zu setzen die gezielt nur jenen Einkommensgruppen helfen, die eine Entlastung besonders nötig haben.