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Behindertenarbeit hat nichts mit PFLEGE zu tun … oder etwa doch?

Ein Tag in einer WG für Erwachsene mit Schwerst- und Mehrfachbehinderung: In der Früh BewohnerInnen aufwecken, diese waschen und anziehen, anschießend Transfer in den Rollstuhl. Danach Frühstück, welches entweder klein geschnitten oder püriert werden muss, damit unsere BewohnerInnen entsprechend bei der Essenseinnahme unterstützt werden können. In der PFLEGE hat man dies früher als „füttern“ bezeichnet.

Adobe Stock, AnnaStills

Danach bei Bedarf Hände und Gesicht der BewohnerInnen waschen, denn in der PFLEGE möchte man ressourcenorientiert arbeiten und mit der Möglichkeit von Handführung die Esssituation ein Stück weit selbstbestimmter gestalten. Das geht zumeist nicht ganz ohne „herumpatzen“.

Je nach Witterung, werden unsere BewohnerInnen dann erneut angezogen, da die Fahrtendienste kommen und unsere BewohnerInnen in ihre Tagesstrukturen bringen, wo vermutlich dann auch keine PFLEGE passiert.

Wenn unsere BewohnerInnen wieder in die WG kommen, erfolgt zumeist erst einmal Unterstützung beim WC-Gang bzw. kümmern wir uns um die Inkontinenzversorgung. In der PFLEGE nannte man das früher „wickeln“. Wer möchte, bekommt eine Kaffeejause, adäquat hergerichtet für die erforderliche Unterstützung durch uns. Getränke werden zum Teil eingedickt, da manche unserer BewohnerInnen Schluckstörungen haben. Ein Faktor, den man zum Beispiel aus der PFLEGE kennt.

Auf Grund des fragwürdigen Personalschlüssels und dem ohnehin vorherrschenden Personalmangel, bleibt wenig Zeit für die PÄDAGOGIK. Denn es gilt ja auch den Haushalt zu meistern (Wäsche, Kochen, Abwasch) und die notwendige medizinische Versorgung (Arztbesuche, Apothekenbestellungen, …) zu gewährleisten. Den letzten Punkt kennt man vielleicht aus der PFLEGE.

Ein Tag für die BetreuerInnen ist oft schnell herum, weil mannigfaltige Aufgaben zu erledigen sind. Für unser BewohnerInnen hingegen zieht sich die Zeit bis zum Abendessen vermutlich in die Länge. Dann geht es in umgekehrter Reihenfolge wie auch schon in der Früh los: Unterstützung beim Essen, Baden oder Duschen, Zähne putzen, evtl. rasieren, Pyjama anziehen, Transfer ins Bett, angenehme Positionierung finden (in der PFLEGE nannte man das früher „lagern“), denn unsere BewohnerInnen können sich zum Teil nicht selbstständig drehen und wenden, wie es ihnen angenehm wäre.

Scheinbar sind dies aber Tätigkeiten, die in der PFLGE nicht gemacht werden. Denn das ist die Argumentation, dass Viele von uns BetreuerInnen keinen Pflegebonus, keine Entlastungswoche, … bekommen.

Also habe ich am Ende meines Arbeitstages kaum PÄDAGOGISCH gearbeitet, weil die Zeitressourcen fehlen, offenbar aber auch keine PFLGE gemacht. Da stellt sich natürlich die Frage, was habe ich eigentlich gearbeitet?

Und trotzdem hatte ich nach vier Jahren Arbeit in der WG ein Burnout. Und da kommt bereits die nächste Frage hoch: Was wäre, wenn ich meine Arbeit Vollzeit mache, so wie es sich unsere Politik wünscht?

Denn so, wie es sich jetzt darstellt, arbeite ich NICHTS und das NUR in Teilzeit. Zähle ich damit eigentlich als staatsfeindlich und als Person, die unser Sozialsystem ausnutzt?

Da fällt mir auf, dass ich meinen Text in der Gegenwart verfasst habe. Das ist nicht korrekt, da ich nicht mehr in der WG arbeite. Nachdem ich in den Augen der Politik NICHTS gearbeitet habe, engagiere ich mich beruflich nun in einem anderen Bereich. Dieser ist weniger verantwortungsvoll, weniger belastend, die Arbeitszeiten sind geregelt (kein kurzfristiges Einspringen auf Grund betrieblicher Notwendigkeit!) und ich werde besser bezahlt. Liegt es vielleicht daran, dass es sich nicht um den Sozialbereich handelt?

Der Verfasser/die Verfasserin dieses Textes möchte anonym bleiben. Die bisherigen Artikel zum Thema „Begleitung, Unterstützung, Betreuung und Pflege“ mehrerer Betriebsrät:innen aus dem Sozialbereich haben sie ermutigt ihre Sicht der Dinge darzustellen.

Anmerkung des Verfassers/der Verfasserin:

Ich unterscheide ungern zwischen mentaler Behinderung und körperlicher Schwerst- und Mehrfachbehinderung, da die einen Betroffenen geduldige, zeitintensive Anleitung und die Anderen tatkräftige Unterstützung bzw. Komplettübernahme der PFLEGE brauchen. Man spielt nicht die eine Form der Behinderung gegen die andere aus.