Arbeits- und Sozialrecht in Österreich
Hier findest du einen kurzen Überblick über das österreichische Arbeits- und Sozialrecht. Welche Rechtsquellen gibt es? In welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Wie funktioniert die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit?
Rechtsquellen
Im Arbeits- und Sozialrecht existieren eine Vielzahl von spezifischen Rechtsquellen. Neben Gesetzen und Verordnungen gibt es auf überbetrieblicher Ebene Kollektivverträge und Satzungen sowie auf betrieblicher Ebene Betriebsvereinbarungen. Weiters selbstverständlich Einzelverträge und Arbeitsanweisungen.
Gesetzgebung
Anstelle einer umfassenden Kodifikation gibt es im Arbeitsrecht eine Fülle von Gesetzen, was den Überblick erschwert. Beispielhaft zu erwähnen wären das Angestelltengesetz, das Urlaubsgesetz, das Arbeitszeitgesetz, das Arbeitsruhegesetz, das Arbeitnehmer:innenschutzgesetz, das Gleichbehandlungsgesetz, das Behinderteneinstellungsgesetz, das Mutterschutzgesetz, das Väter-Karenzgesetz, das Bundesgesetz über die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen, das Dienstnehmerhaftpflichtgesetz, das Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz, das Arbeitskräfteüberlassungsgesetz, das Betriebspensionsgesetz und viele mehr.
Lediglich mit dem Arbeitsverfassungsgesetz ist zumindest im kollektiven Arbeitsrecht eine Teilkodifikation gelungen.
Die für Angestellte wesentlichen sozialrechtlichen Bestimmungen finden sich hingegen im Allgemeines Sozialversicherungsgesetz, im Arbeitslosenversicherungsgesetz, im Karenzgeldgesetz, im Kinderbetreuungsgeldgesetz und im Allgemeinen Pensionsgesetz.
Verordnungen
Verordnungen sind aufgrund von Gesetzen von den Verwaltungsbehörden erlassene generelle Normen. Sie dienen in der Regel der Durchführung von Gesetzen. Viele Verordnungen gibt es zB im Betriebs- und Gefahrenschutz (Arbeitnehmer:innenschutz).
Auch Lehrlingsentschädigung und Mindestlohntarif haben Verordnungscharakter:
- Lehrlingsentschädigung wird dann vom Bundeseinigungsamt festgesetzt, wenn für einen Wirtschaftszweig kein Kollektivvertrag wirksam ist. Die Festsetzung erfolgt auf Antrag einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft der Arbeitnehmer:innen oder Arbeitgeber:innen. In Betriebs- und/oder Einzelvereinbarungen dürfen für die Lehrlinge günstigere Regeln getroffen werden.
- Mindestlohntarife sind vom Bundeseinigungsamt erlassene Regelungen betreffend Mindestentgelt und Mindestbeträge für den Ersatz von Auslagen. Ein Mindestlohntarif darf nur für Arbeitnehmer:innen erlassen werden, für die mangels einer kollektivvertragsfähigen Körperschaft auf Arbeitgeber:innenseite kein Kollektivvertrag abgeschlossen werden kann und auch keine Satzung gilt. In Betriebs- und/oder Einzelvereinbarungen dürfen für die Arbeitnehmer:innen günstigere Regeln getroffen werden
Kollektivvertrag
Kollektivverträge sind schriftliche überbetriebliche Vereinbarungen zwischen kollektivvertragsfähigen Körperschaften der Arbeitnehmer:innen einerseits und Arbeitgeber:innen andererseits.
Gesetzliche Interessenvertretungen der Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen (Kammern) sind schon aufgrund des Gesetzes kollektivvertragsfähig, freiwilligen Berufsvereinigungen kann die Kollektivvertragsfähigkeit vom Bundeseinigungsamt behördlich zuerkannt werden (zB Österreichischer Gewerkschaftsbund).
Da, was die Fähigkeit betrifft Kollektivverträge abzuschließen, die freiwilligen Interessenvertretungen Vorrang vor den gesetzlichen genießen, werden Kollektivverträge in Österreich auf Arbeitnehmer:innenseite in der Regel vom Österreichischen Gewerkschaftsbund/den Einzelgewerkschaften ausverhandelt und abgeschlossen.
Kollektivverträge gelten zumeist für einen ganzen Industrie- bzw Wirtschaftszweig.
Die Regelungsinhalte sind vielfältig. In Kollektivverträgen werden u.a. Mindestgrundgehälter und Sonderzahlungen (13./14.Gehalt) festgelegt sowie Regelungen hinsichtlich der Arbeitszeit getroffen.
Satzung
Einem Kollektivvertrag kann auch außerhalb seines Geltungsbereiches rechtsverbindliche Wirkung zuerkannt werden, indem er zur Satzung erklärt wird. Zweck der Satzung ist es, auch Arbeitnehmer:innen, die mangels Kollektivvertragsangehörigkeit ihrer Arbeitgeber:innen keinem Kollektivvertrag unterliegen, in den Genuss kollektiver Regelungen zu bringen.
Voraussetzung für eine Satzung ist der Antrag einer der beiden Kollektivvertragsparteien. Die Satzung erfolgt durch das Bundeseinigungsamt.
Betriebsvereinbarung (BV)
Betriebsvereinbarungen sind schriftliche betriebliche Vereinbarungen zwischen BetriebsinhaberIn/ArbeitgeberIn einerseits und zuständigem Belegschaftsorgan (Betriebsrat, Betriebsausschuss, Zentralbetriebsrat, Konzernvertretung) andererseits.
Echte Betriebsvereinbarungen können nur in solchen Angelegenheiten abgeschlossen werden, deren Regelung durch Gesetz oder Kollektivvertrag der Betriebsvereinbarung vorbehalten ist. Die unterschiedlichen BV-Typen, ihre Rechtswirkungen und die Frage der Kündbarkeit werden im Arbeitsverfassungsgesetz geregelt.
Werden Betriebsvereinbarungen in anderen als den oben genannten Angelegenheiten abgeschlossen, handelt es sich um sogenannte "freie Betriebsvereinbarungen", die nicht dieselben Rechtswirkungen entfalten wie die echten. Der Inhalt "freier Betriebsvereinbarungen" findet Einlass in die Einzelverträge der Arbeitnehmer:innen, kann von diesen also auch durch Vereinbarung mit dem/der ArbeitgeberIn zu ihrem Nachteil abgeändert werden.
Einzelvertrag
Der Einzelvertrag (Arbeitsvertrag, Dienstvertrag) wird vor bzw bei Begründung des Arbeitsverhältnisses zwischen ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn abgeschlossen und regelt die wesentlichen wechselseitigen Rechte und Pflichten.
Einzelverträge dürfen Arbeitnehmer:innen in der Regel nicht schlechter stellen als zwingende gesetzliche Bestimmungen, Kollektivvertrag oder Betriebsvereinbarung.
Lesen Sie bitte Näheres im "Arbeitsrecht ABC" unter Dienstvertrag bzw Dienstzettel.
Weisung
Weisungen konkretisieren den Arbeitsvertrag hinsichtlich der Art der Arbeitsverrichtung. Weisungen dürfen weder gegen eine Norm verstoßen noch über den durch den Arbeitsvertrag gesteckten Rahmen hinausgreifen. Arbeitnehmer:innen müssen lediglich solchen Weisungen Folge leisten, die durch den Gegenstand der Arbeitsleistung gerechtfertigt sind.
Stufenbau der Rechtsordnung
Der Stufenbau der Rechtsordnung ist nichts weiter als eine Rangordnung der Rechtsquellen.
Stufe 1: Gemeinschaftsrecht, Verfassungsrecht
Das Gemeinschaftsrecht (Recht der Europäischen Union) und das österreichische Verfassungsrecht stehen an der Spitze unserer Rechtsordnung.
Die spezielle arbeitsrechtliche Gesetzgebung muss mit beiden Rechtsquellen im Einklang stehen.
Stufe 2: Zwingendes Gesetzesrecht
Es gibt absolut zwingende und relativ zwingende arbeitsrechtliche Gesetzesbestimmungen. Erstere sind durch untergeordnete Rechtsquellen nicht abänderbar, letztere können abgeändert werden, allerdings nur zum Vorteil der Arbeitnehmer:innen. Wegen des arbeitsrechtlichen Schutzgedankens dominieren die relativ zwingenden Normen: Das Gesetz legt Mindestarbeitsbedingungen fest und überlässt es den untergeordneten Rechtsquellen (Kollektivvertrag, Betriebsvereinbarung, Einzelvertrag), diese zugunsten der Arbeitnehmer:innen weiter auszugestalten. Diese Mindestarbeitsbedingungen dürfen also überschritten aber keinesfalls unterschritten werden.
Stufe 3: Verordnungen
Auch Verordnungen können absolut zwingende und relativ zwingende Bestimmungen enthalten. Verordnungscharakter haben zB Lehrlingsentschädigung und Mindestlohntarif.
Stufe 4: Kollektivvertrag, Satzung
Kollektivverträge werden für bestimmte Branchen abgeschlossen. Sie sind somit überbetriebliche Vereinbarungen.
In der Regel schaffen Kollektivverträge branchenbezogene Mindestarbeitsbedingungen (zB Mindestlohn/-gehalt). Für Arbeitnehmer:innen günstigere untergeordnete Rechtsquellen sind zulässig.
Kollektivverträge können aber auch zweiseitig verpflichtende und somit durch untergeordnete Rechtsquellen nicht abänderbare Regelungen treffen.
Kollektivverträge können auch gesatzt werden. Satzungen stehen mit Kollektivverträgen auf einer Stufe.
Stufe 5: Betriebsvereinbarung
Betriebsvereinbarungen werden zwischen Betriebsinhaber und Betriebsrat abgeschlossen. Betriebsvereinbarungen sind ein Instrument der Mitbestimmung im Betrieb.
Betriebsvereinbarungen dürfen nur Bestimmungen enthalten, die für Arbeitnehmer:innen günstiger sind als die Bestimmungen in zwingenden Gesetzen und/oder Kollektivverträgen.
Sie können sich keine zweiseitig zwingende Wirkung verleihen, also auch nicht ausschließen, dass im Einzelvertrag für Arbeitnehmer:innen günstigere Regelungen getroffen werden.
Stufe 6: Einzelvertrag, Individualvereinbarung
Einzelverträge werden zwischen ArbeitgeberIn und ArbeitnehmerIn abgeschlossen.
In Einzelverträgen dürfen keine Bestimmungen enthalten sein, die den/die ArbeitnehmerIn schlechter stellen als zwingendes Gesetz, Kollektivvertrag und/oder Betriebsvereinbarung.
Stufe 7: Nachgiebiges (dispositives) Recht
Hierbei handelt es sich um Rechtsnormen, von denen sowohl zu Gunsten als auch zu Ungunsten der Arbeitnehmer:innen abgewichen werden kann.
Stufe 8: Weisungen des Arbeitgebers, Arbeitsanweisungen
Arbeitsanweisungen befinden sich auf der letzten Stufe der Hierarchie. Sie müssen mit sämtlichen übergeordneten Rechtsquellen im Einklang stehen.
Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit
Zur Entscheidung in Arbeits- und Sozialrechtsangelegenheiten sind die ordentlichen Gerichte berufen. Sie entscheiden in Senaten.
- In 1. Instanz: Während für Wien ein eigenes "Arbeits- und Sozialgericht" eingerichtet wurde, entscheidet in allen anderen Bundesländern das zuständige Landesgericht als Arbeits- und Sozialgericht.
- In 2. Instanz sind die Oberlandesgerichte zuständig.
- In 3. Instanz ist der Oberste Gerichtshof zuständig, der allerdings nicht in allen Verfahren angerufen werden kann (beschränkter Zugang).
Senate
Die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit wird grundsätzlich in Richter:innensenaten ausgeübt; diese Senate setzen sich aus Berufsrichter:innen sowie fachkundigen Laienrichter:innen zusammen.
Die fachkundigen Laienrichter:innen werden von den gesetzlichen Interessenvertretungen der Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen gewählt. Ihr Amt ist ein Ehrenamt; die Amtsdauer beträgt 5 Jahre. Laienrichter:innen sind in Ausübung ihres Amtes unabhängig.
Durch die Beteiligung von Laienrichter:innen in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit soll gewährleistet werden, dass praktische Erfahrungen aus der Arbeitswelt, die Berufsrichter:innen in der Regel nicht vorweisen können, in den Prozess und vor allem in die Entscheidungsfindung mit einfließen.
Die in einem Prozess beisitzenden Laienrichter:innen sollten deshalb auch den Berufsgruppen der am Rechtsstreit beteiligten Parteien angehören und somit die erforderliche spezifische Branchenkenntnis aufweisen.
Die Mitwirkung an der Rechtsfindung in der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit aller 3 Instanzen ist auch eine wichtige gewerkschaftspolitische Aufgabe. Diese wird dadurch erfüllt, dass Gewerkschaftssekretär:innen als fachkundige Laienrichter:innen tätig sind und somit die Entwicklung der Judikatur mitgestalten.
In erster Instanz besteht ein Senat aus 1 RichterIn und 2 Laienrichter:innen (je eine(r) von Arbeitnehmer:innen- bzw Arbeitgeber:innenseite), in zweiter und teilweise auch dritter Instanz entscheiden 3 Richter:innen und 2 Laienrichter:innen (wiederum je eine(r) von Arbeitnehmer:innen- bzw Arbeitgeber:innenseite). Außerdem gibt es in dritter Instanz mitunter sogenannte "verstärkte Senate" mit 7 Richter:innen und 4 Laienrichter:innen.
Beispielfall: Wie kann ein Prozess vor einem arbeits- und sozialgerichtlichen Senat verlaufen?
Frau Herta R. wird von der GPA-djp in einem Prozess wegen offener Überstunden vertreten. In der von ihrer Rechtsvertretung bei Gericht eingebrachten Klage macht sie 25 geleistete Überstunden geltend, deren Bezahlung von ihrem Arbeitgeber trotz Intervention mit der Begründung verweigert wurde, sie hätte diese Stunden gar nicht geleistet. Da der Streitwert unter EUR 30.000 liegt, erlässt das Gericht zunächst ohne Überprüfung der in der Klage gemachten Angaben einen Zahlungsbefehl. Der Arbeitgeber erhebt gegen diesen Zahlungsbefehl rechtzeitig Einspruch und bringt vor, die 25 eingeklagten Überstunden wären von Frau Herta R. nicht geleistet worden. In einem halbstündigen Verhandlungstermin vor Gericht scheitern die vom Gerichtssenat angeregten Vergleichsgespräche, so dass beide Parteien aufgefordert werden, ihre Beweismittel bekannt zu geben.
Zulässige Beweismittel in einem Zivilprozess sind die Parteieneinvernahme, Zeug:innen, Sachverständige, Urkunden und der Lokalaugenschein.
Im konkreten Prozess macht Frau Herta R. eine Arbeitskollegin als Zeugin dafür namhaft, dass sie die 25 eingeklagten Überstunden geleistet hat. Sie beantragt außerdem ihre eigene Einvernahme als Partei und legt ihre eigenhändig geführten Arbeitszeitaufzeichnungen als Urkunden vor. Der Arbeitgeber, Herr Gustav H., beantragt lediglich seine eigene Einvernahme.
Ein weiterer Verhandlungstermin zur Durchführung des Beweisverfahrens (Erhebung der beantragten Beweise) wird ausgeschrieben. Anlässlich dieses Termines werden Frau Herta R. und Herr Gustav H. als Parteien sowie die Arbeitnehmerin Sigrid A. als Zeugin einvernommen. Die Befragung der Parteien und der Zeugin erfolgt sowohl durch den Gerichtssenat als auch durch die Rechtsvertreter:innen beider Parteien.
Während Frau Herta R. aussagt, die handschriftlich aufgezeichneten Überstunden auf Anordnung ihres Arbeitgebers geleistet und deren Bezahlung auch wiederholt mündlich geltend gemacht zu haben, behauptet Herr Gustav H., dass diese Stunden weder von ihm angeordnet noch von der Klägerin geleistet worden seien und dass er sich auch nicht daran erinnern könne, dass deren Bezahlung jemals verlangt worden wäre.
Die Zeugin Sigrid A. bestätigt in ihrer Aussage die Angaben von Frau Herta R.
Der Senat schließt, da keine weiteren Beweisanträge gestellt werden, das Beweisverfahren und erklärt, dass die Entscheidung den Parteien schriftlich zugehen werde.
Nach drei Monaten wird das erstinstanzliche Urteil, mit welchem dem Klagebegehren stattgegeben wird, den Parteienvertreter:innen zugestellt. Der Beweiswürdigung des Urteils ist zu entnehmen, dass der Senat der Darstellung der Klägerin und nicht jener des Beklagten Glauben geschenkt hat, zumal diese durch eine Zeugin bestätigt wurde.
Herr Gustav H. erhebt über seine Rechtsvertretung gegen dieses Urteil fristgerecht Berufung an das zuständige Oberlandesgericht und bemängelt insbesondere die Beweiswürdigung des Erstgerichtes; er meint, man hätte der Zeugin Sigrid A. keinen Glauben schenken dürfen. Die Rechtsvertretung von Frau Herta R. erstattet eine Berufungsbeantwortung und beantragt, der Berufung der beklagten Partei keine Folge zu geben, sondern das erstinstanzliche Urteil zu bestätigen.
In der mündlichen Berufungsverhandlung legen beide Rechtsvertretungen noch einmal ihre schriftliche Argumentation dar, eine Wiederholung des Beweisverfahrens findet nicht statt.
Der Berufungssenat entscheidet schriftlich auf Basis des vorliegenden Akteninhalts und bestätigt die Beweiswürdigung und damit auch das Urteil der ersten Instanz. Diese Entscheidung erwächst in Rechtskraft.
Herr Gustav H. ist bei sonstiger Exekution dazu verpflichtet, die eingeklagten Überstunden (samt Zinsen und Kosten der Klägerin) binnen 14 Tagen zu bezahlen.