Zum Hauptinhalt wechseln

Arbeits- und Gewerkschaftsrealitäten in Osteuropa

Vor fast 30 Jahren fand die Marktöffnung der osteuropäischen Länder statt. Seither lässt sich feststellen, dass internationale Konzerne leicht Fuß gefasst haben, die arbeits- und sozialrechtlichen Standards jedoch über weite Teile zurückgeblieben sind. Die Gewerkschaften hatten es schwer, gute Sozialsysteme zu verteidigen oder gar auszubauen. Vielerorts werden Gewerkschaften bis heute als Teil des alten Systems betrachtet, was ihren Rückhalt in der Gesellschaft massiv schwächt.

Unterschiedliche wirtschaftliche Voraussetzungen

Das Bruttoinlandsprodukt (Wirtschaftsleistung pro Kopf) ist im osteuropäischen Raum zwischen einem Drittel und drei Viertel niedriger als in Österreich. Die Staaten in Osteuropa können zwar ein jährliches Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 3-4% verzeichnen, dennoch wird es noch einige Jahre dauern, bis sie mitteleuropäisches Niveau erreicht haben. Das Ziel europäischer Politik, die Ungleichheiten zwischen den Volkswirtschaften in Ost- und Westeuropa maßgeblich zu verringern, wird erst langfristig erreichbar sein. 

Lohngefälle setzt Arbeitsmärkte und Beschäftigte unter Druck

Die – gesetzlichen – Mindestlöhne im osteuropäischen Raum sind mit einer Schwankungsbreite von knapp 300 – 900 Euro pro Monat vergleichsweise sehr niedrig und reichen oft nicht zum Leben für die Menschen. Dieses Lohngefälle zwischen Ost und West verursacht nach wie vor eine hohe Abwanderung vor allem junger, gut ausgebildeter Arbeitskräfte und stellt damit die Arbeitsmärkte sowie Beschäftigte in Ost- und Westeuropa vor Herausforderungen.

Die kollektivvertragliche Abdeckung liegt bis auf wenige Ausnahmen im osteuropäischen Raum bei unter 30% (Österreich: 98%). Nach der Wende 1989, nach dem EU-Beitritt und während der Wirtschafts- und Finanzkrise sind in vielen osteuropäischer Staaten die KV-Abdeckungsraten rapide gesunken. In den meisten Staaten werden kollektivvertragliche Regelungen lediglich für die Unternehmensebene vereinbart, was die Verhandlungsmacht der Beschäftigten stark reduziert. 

Eingeschränkte gewerkschaftliche und betriebliche Mitbestimmung

Die niedrigen Löhne sowie der Rückgang der kollektivvertraglichen Abdeckungsrate ist vor allem auf den stark zurückgegangenen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in den meisten osteuropäischen Staaten zurückzuführen. Bis auf wenige Ausnahmen liegt dieser aktuell bei deutlich unter 15%. Die betriebliche Interessenvertretung funktioniert in vielen osteuropäischen Staaten über Betriebsgewerkschaften, die vielfach jedoch erst ab einer gewissen Mitgliederquote im Betrieb repräsentativ und somit verhandlungsfähig sind. Diese können betriebliche Kollektivverträge verhandeln, die Einhaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften bzw. Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz überprüfen. Oft wurden parallel dazu in den letzten Jahren auch Betriebsräte installiert. Diese sind aber meistens lediglich mit Informations- und Konsultationsrechten ausgestattet, aber ohne wesentliche Mitbestimmungsrechte.

Niedrigere Standards wirken sich auf alle EU-Staaten aus

Der europäische Binnenmarkt hat die Arbeitskräftemobilität innerhalb der EU erhöht. Die niedrigen arbeits- und sozialrechtlichen Standards in Osteuropa führen nach wie vor dazu, dass viele Beschäftigte aus diesen Ländern einen Job in anderen EU-Mitgliedstaaten suchen. Mangels treffsicherer europäischer Regelungen führte dies zu mehr Druck auf den Arbeitsmärkten und zu Lohn- und Sozialdumping.

Darüber hinaus nutzen große Konzerne die niedrigen arbeits- und sozialrechtlichen Standards in Osteuropa, um in der Hoffnung auf Kostenersparnis Produktionen und Tätigkeiten auszulagern: ein Standortwettbewerb, der auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird.

Als Gewerkschaften müssen wir uns deshalb dafür einsetzen, dass die arbeits- und sozialrechtlichen Standards in Osteuropa ansteigen und den Beschäftigten dort eine gute Absicherung ermöglichen.