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Beyond Growth – es ist höchste Zeit unser Wirtschaftsmodell zu überdenken

Die Verwendung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), um das Wachstum oder den wahrgenommenen Wohlstand eines Landes zu messen, ist eine irreführende Messlatte

Luiza Puiu

Immer mehr Analysen zeigen, wie Frauen und der Wert der Natur systematisch von dem, was in den Volkswirtschaften als produktiv angesehen wird, ausgeschlossen werden. Die sozialen und ökologischen Kosten werden nicht berücksichtigt. Seit Entstehung des BIP vor dem Hintergrund der Großen Depression und des Zweiten Weltkriegs ist es so allgegenwärtig, dass sein Ursprung als völlig künstliches Konstrukt zur Erfassung der Kriegstätigkeit oft vergessen wird.

Sein inhärentes Wesen ließ wenig Raum für andere Anliegen wie Umweltzerstörung oder sozioökonomische Entwicklung. Weder die Pflege, noch die Freiwilligenarbeit oder das Gemeinwesen werden als relevant angesehen und damit eine tief verwurzelte Kultur der Ungleichheit aufrechterhalten. Diese fehlerhaften Wirtschaftsmodelle sind (Mit-)Ursache für die größten Probleme unserer Zeit wie Armut, Ungleichheit und Umweltzerstörung. Sie setzen die falschen Prioritäten und weisen die Ressourcen falsch zu.

Es ist ein Fehler, die unbezahlte Arbeit aus dem BIP herauszurechnen. Etwa die Hälfte der Arbeit auf der Welt ist unbezahlt, und der größte Teil davon wird von Frauen verrichtet. Betrachtet man die kombinierten Zeitverwendungsdaten für bezahlte und unbezahlte Arbeit, so leisten Frauen insgesamt mehr Arbeitszeit, die jedoch meist nicht anerkannt und, wenn sie doch entlohnt wird, stark unterbezahlt wird. Diese Ungleichheit führt zu einer ständigen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in den meisten Lebensbereichen und zwingt Frauen oft in unerwünschte Arbeitslosigkeit oder Teilzeitarbeit. Darüber hinaus ist die Pflegearbeit mit menschlichen Kosten verbunden: sie ist emotional und körperlich anstrengender als andere Tätigkeiten. In allen EU-Ländern gibt im Durchschnitt etwa die Hälfte der Pflegekräfte an, emotional belastet zu sein, 38 % sind nach der Arbeit meistens oder immer erschöpft, und 30 % haben das Gefühl, dass sich ihre Arbeit negativ auf ihre Gesundheit auswirkt.

Eine Politik, die die unverzichtbare Arbeit der Pflege nicht unterstützt, kann nicht länger toleriert werden. Wirtschaftlicher Erfolg kann nicht nur an Waren oder Haushaltsprodukten gemessen werden. Letztlich ist es das Ziel jeder Gesellschaft, dass alle ihre Mitglieder ein menschenwürdiges Leben ohne Gewalt führen können und die Chance haben, ihre Träume zu verwirklichen. Dafür müssen wir endlich den Rahmen schaffen, denn der wirtschaftliche Rahmen, in dem wir derzeit leben, unterstützt dieses Ziel nicht.

Einige Regierungen - in erheblichem Maße unter der Führung fortschrittlicher Frauen – hatten damit begonnen, das soziale und ökologische Wohlergehen in den Mittelpunkt zu stellen, insbesondere durch höhere Investitionen in die öffentliche Gesundheit, die Verringerung der Luftverschmutzung und der Treibhausgasemissionen oder die Erhaltung der biologischen Vielfalt. Soziale Ungleichheiten müssen gelenkt ausgeglichen werden, nämlich auch mit Steuern auf Vermögen, Finanzen und Digitales.

Mehr denn je ist es daher höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel in der Art und Weise, wie wir unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften organisieren hin zu einem Modell, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt, auf Fürsorge ausgerichtet ist und die Umwelt respektiert. Angesichts der zunehmenden Unsicherheiten und des Rechtsrucks in der EU brauchen wir belastbare Allianzen mit vielen Akteur:innen, um gemeinsam den Weg zu einem nachhaltigeren, humaneren, sozial gerechteren - und damit von Natur aus feministischen - Europa zu beschreiten.