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EU-Staaten: Trotz Wirtschaftswachstum sind Löhne weiterhin zu niedrig

Die europäischen Staats- und Regierungschefs sprechen immer wieder vom wirtschaftlichen Aufschwung in den letzten Jahren nach der Wirtschafts- und Finanzkrise. In vielen EU-Staaten zeigt sich jedoch, dass die Krise für viele Beschäftigte noch immer nicht vorüber ist. Die Lohnniveaus sind im Zehnjahresvergleich (2010-2019) in vielen Mitgliedstaaten gesunken oder stagnieren. Der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in Zwei-Drittel der EU-Staaten in besagtem Vergleichszeitraum zurückgegangen. Die Lohnerhöhungen konnten mit den Produktivitätssteigerungen in 15 EU-Ländern in den letzten zehn Jahre nicht Schritt halten. Um dieses Auseinanderklaffen zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und sinkendem oder stagnierenden Lohnniveau entgegenzuwirken, muss sich die EU für eine Aufwertung und Stärkung des sozialen Dialoges sowie sektoraler Kollektivvertragssysteme in ganz Europa einsetzen und dadurch einen Rahmen für erhebliche Lohnerhöhungen schaffen.

Sinkendes Lohnniveau vor allem in südeuropäischen Mitgliedstaaten 

Wie die aktuelle ETUI-Studie (basierend auf Daten von „AMECO“, einer Datenbank der EU-Kommission für wirtschaftliche Entwicklung) zeigt, sind die Löhne in sechs EU-Staaten aktuell im Durchschnitt niedriger als vor zehn Jahren. Betroffen davon sind vor allem südeuropäische Staaten, die nach wie vor besonders an den Auswirkungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkreise leiden. Die durchschnittlichen Löhne und Gehälter sind inflationsbereinigt zwischen 2010 und 2019 in folgenden Staaten zurückgegangen: Griechenland (-15%), Zypern (-7%), Kroatien (-5%), Spanien (-4%), Portugal (-4%) und Italien (-2%). In Finnland (+0,1%) Belgien und den Niederlanden (jeweils +1,5%) stagniert die Lohnentwicklung beinahe. Darüber hinaus geht aus der Studie hervor, dass selbst in den Niedriglohnländern (Bulgarien, Rumänien etc.), wo in den letzten Jahren teils erhebliche Lohnerhöhungen stattgefunden haben, die Beschäftigten nach wie vor keine angemessene und faire Bezahlung erhalten. Die von der EU versprochene Annäherung bei der Lohnentwicklung der „neuen“ Mitgliedstaaten, die zu mehr Gleichheit innerhalb des Binnenmarktes führen sollte, bleibt somit in weiter Ferne. 

Lohnanteil an Gesamtwirtschaft in 18 Mitgliedstaaten zurückgegangen

Offiziellen Zahlen zufolge erhielten die Beschäftigten von 2010-2019 in zwei Drittel der EU-Mitgliedstaaten einen geringeren Anteil am BIP ihres Landes als zu Beginn des Jahrzehnts. Die Statistiken der Europäischen Kommission zeigen, dass die Lohnquote - ein Schlüsselindikator zur Bemessung von Ungleichheit – im Zehnjahresvergleich in 18 EU-Mitgliedsstaaten gesunken ist. Den größten Rückgang des Lohnanteils am BIP verzeichnet Irland* (19%), vor Kroatien (11%), Zypern (6%), Portugal und Malta (jeweils 5%). Diese Statistiken machen deutlich, dass die arbeitenden Menschen in diesen Ländern einen immer geringeren Anteil am wirtschaftlichen Wohlstand erhalten, den sie tagtäglich erzeugen.

Produktivitätssteigerungen spiegeln sich nicht in Lohnerhöhungen wieder 

Die Statistiken zeigen ebenfalls, dass in vielen EU-Staaten die Produktivität stärker gewachsen ist als die Einkommen der Beschäftigten. Im Vergleichszeitraum 2010-2019 gab es in insgesamt 15 EU-Staaten eine Entwicklung, die im Vergleich zur Produktivitätssteigerung geringere Lohnerhöhungen ermöglichte. Die einzelnen Mitgliedstaaten sind unterschiedlich stark von dieser Entwicklung betroffen: Irland* (-35%), Kroatien (-17%), Spanien (-11%), Griechenland und Zypern (-9%), Portugal (-7%), Belgien, Niederlande und Finnland (-3%), Italien (-2%), Frankreich, Dänemark und Österreich (-1%), Slowenien (-5%) und Malta (-0,2%). Daraus geht hervor, dass die Arbeitsproduktivität zwar steigt, sich der dadurch erzielte Mehrwert für das Unternehmen jedoch nicht in den Reallohnzuwächsen der ArbeitnehmerInnen ausreichend niederschlägt.

Europaweite Stärkung kollektivvertraglicher Systeme und umfassende Lohnerhöhungen

Angesichts dieser negativen Entwicklungen muss die EU Initiativen ergreifen, um europäische und nationale Maßnahmen zu unterbinden, die darauf abzielen, kollektivvertragliche Verhandlungssysteme weiter zu schwächen. Im Umkehrschluss bedarf es Initiativen auf europäischer Ebene, die auf einen Ausbau und eine Stärkung sektorale kollektivvertraglicher Verhandlungssysteme abzielen. Dies muss im Sinne einer solidarischen Lohnpolitik stattfinden, die sich an der gesamtwirtschaftlichen Produktivität sowie an der Inflation orientiert. Diese Grundsätze müssen sich auch in der von der EU-Kommission geplanten Initiative für einen europäischen Mindestlohn wiederfinden. 

Esther Lynch, stellvertretende Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) stellt daher folgende Bedingungen: “Ursula von der Leyen hat angekündigt, dass die neue Europäische Kommission eine 'Wirtschaft im Dienste der Menschen' anstrebt, was ein lobenswertes Ziel ist, das wir voll und ganz unterstützen. Sie wird dazu aber Vorschläge zur Änderung der Spielregeln in Bezug auf die Lohnfindung vorlegen müssen, die die Löhne in ganz Europa steigen lassen, damit sie ihr Versprechen einhalten kann.“

* Irland lockt durch besonders niedrige Unternehmenssteuern Konzernzentralen ins Land, die zwar hohe Gewinne erwirtschaften, aber kaum Beschäftigung schaffen. Dies schlägt sich in den Statistiken nieder und verstärkt dadurch die negativen Entwicklungen.