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Sozialen Rechten Vorrang vor Wirtschaftsinteressen geben

Im Vertragswerk der Europäischen Union sind allem voran die vier Marktfreiheiten (freier Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr) festgeschrieben. Daraus resultiert, dass der freie Binnenmarkt oberste Priorität in der EU genießt und alle anderen politischen Erfordernisse diesem untergeordnet werden müssen. Daraus ergibt sich eine systematische und einseitige Bevorzugung von Wirtschaftsinteressen.

Sozialpolitik, die Verteilungsgerechtigkeit und Wohlstand für die breite Masse garantieren soll, sowie Gewerkschaftsrechte und Kollektivverträge werden stets nachrangig behandelt. Sichtbar wird diese vertragliche Schieflage vor allem an den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), die oft eine Rechtsprechung zugunsten der Marktfreiheiten und zulasten sozialer Rechte bedeuten.

Urteil im Fall Viking Line

Der EuGH hat gerade in den letzten Jahren durch seine Rechtssprechung mehrere Beispiele dafür, geliefert, im Zweifel gewerkschaftliche Grundrechte, wie das Recht auf kollektivvertragliche Mindestlöhne oder die Streikfreiheit, massiv einzuschränken. Im Fall „Viking Line“ plante die gleichnamige finnische Reederei, deren Schiffe zwischen Skandinavien und den baltischen Staaten verkehren, eines ihrer Schiffe unter esthnischer Flagge fahren zu lassen. Das hätte es dem Unternehmen ermöglicht, die finnische Besatzung durch Seeleute aus Estland zu ersetzen, die nach einem weit schlechteren Kollektivvertrag entlohnt werden sollten.

Dagegen protestierten die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) und die finnische Seeleutegewerkschaft (FSU) und kündigten Kampfmaßnahmen an. Viking Line klagte die Gewerkschaften auf Unterlassung und berief sich dabei insbesondere auf die Niederlassungsfreiheit. Der EuGH stellte fest, dass kollektive Maßnahmen von Gewerkschaften am Maßstab der Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu messen sind, und dass sich auch Private - hier also der Arbeitgeber - auf diese Grundfreiheiten berufen können. Der EuGH anerkennt zwar, dass kollektive Maßnahmen (z. B. Streiks oder andere Formen des Arbeitskampfes) sowie Verhandlungen und der Abschluss von Tarif (=Kollektiv-) Verträgen zu den wichtigsten Mitteln der Gewerkschaften gehören, um die Interessen ihrer Mitglieder zu schützen, er kommt aber trotzdem in diesem Fall zum Ergebnis, dass die kollektiven Maßnahmen der ITF und der FSU die Niederlassungsfreiheit (in Form der Umflaggung von finnischen Schiffen auf Estland) beschränkt hätten.

Diese Entscheidung des EuGH öffnet Lohn- und Sozialdumping Tür und Tor und zeigt eindeutig, dass wirtschaftliche Freiheiten der Unternehmen höher bewertet werden als die sozialen Rechte der ArbeitnehmerInnen und ihrer Interessenvertretungen.

Soziales Fortschrittsprotokoll jetzt durchsetzen

Die Vertragskonstruktion der EU ist aus gewerkschaftlicher Sicht daher mehr als fehlerhaft. Europa kann nicht funktionieren, wenn soziale Fragen im Konfliktfall wirtschaftlichen Freiheiten des Binnenmarktes oder Wettbewerbsregeln unterliegen. Der Vorrang des Binnenmarktes verhindert die Entwicklung hin zu einem sozialen Europa, gefährdet nationale Kollektivertragssysteme und erschwert den Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping.

Es braucht daher ein Soziales Fortschrittsprotokoll, welches im Primärrecht verankert ist und sozialen Grundrechten Vorrang vor wirtschaftlichen Freiheiten einräumt.

Zukünftigen EU-Vertragsänderungen darf daher nur zugestimmt werden, wenn damit auch der Beschluss über die Umsetzung des sozialen Fortschrittsprotokolls einhergeht.