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Großbritannien – Beispiel neoliberaler Politik

Situation britischer Gewerkschaften und ArbeitnehmerInnen

Ende der 1970er Jahren hatte der TUC (Trade Union Congress), der Dachverband der britischen Gewerkschaften, rund 13,2 Millionen Mitglieder – das entsprach einem Organisationsgrad von über 50 %. Die Kollektivvertragsabdeckung lag bei circa 75 %. Heute sind es rund 6,5 Millionen Gewerkschaftsmitglieder (ca. 22 % Organisationsgrad) und nur mehr 23 % der ArbeitnehmerInnen sind von Kollektivverträgen abgedeckt. Hinzu kommt, dass die Flächen-Kollektivverträge von früher weitgehend von „Haus-Verträgen“ für einzelne Betriebe bzw. Unternehmensverträgen und teilweise sogar Abteilungsverträgen abgelöst wurden.

Produkt der Thatcher-Politik

Diese massiven Verschlechterungen sind das Ergebnis einer gewollten und gezielten Politik von Margret Thatcher, um Großbritanniens „Konkurrenzfähigkeit“ zu steigern. Systematisch baute sie in den 1980er Jahren Gewerkschaftsrechte ab, während sie gleichzeitig Liberalisierung vorantrieb.

Wesentlich war, dass Solidaritätsstreiks verboten wurden. ArbeitnehmerInnen dürfen nur noch gegenüber ihrem direkten Arbeitgeber streiken. Das führte etwa dazu, dass der Medien-Magnat Rupert Murdoch eine neue Fabrik baute und die alte schloss. Die 6.000 von heute auf morgen entlassenen Beschäftigten durften nur eine leere, stillgelegte Fabrik bestreiken – da die neue ein anderer Arbeitgeber war. So entledigte sich Murdoch eines gewerkschaftlich durchorganisierten Betriebes.

Darüber hinaus setzte Thatcher viele Maßnahmen, um die Gewerkschaften (und auch die oppositionelle Labour Partei) in ihrer Handlungsfähigkeit einzuschränken und an der Mitgliederbasis zu schwächen. Beispielsweise müssen GeneralsekretärInnen sowie die Exekutivkomitees von Gewerkschaften per Brief von allen Mitgliedern gewählt werden, und nicht mehr auf Kongressen, wie es früher üblich war. Um auf betrieblicher Ebene einen Kollektivvertrag verhandeln zu können, muss in Großbritannien der Arbeitgeber die lokale Gewerkschaft anerkennen.

Verbesserungen seit den 1990ern

Obwohl Tony Blair die Liberalisierungspolitik fortsetzte, führte er dennoch sozialpolitisch wesentliche Verbesserungen ein. Insbesondere im Gesundheitssystem kam es zu Fortschritten. Außerdem änderte er das Anerkennungsrecht: Sobald es in einem Betrieb 50 % plus ein Gewerkschaftsmitglied gibt, muss der Arbeitgeber automatisch die Betriebsgewerkschaft anerkennen, womit sie mit einem Sockel an Rechten ausgestattet ist und Kollektivvertragsverhandlungen aufnehmen kann.

Essentiell war auch der Beschluss der Europäischen Sozialcharta. Sie garantiert grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf Arbeit, das Koalitions- und Vereinigungsrecht und das Recht auf soziale Sicherheit.

Situation der Beschäftigten heute

Jahrzehntelange Deregulierungspolitik macht sich im Arbeitsalltag bemerkbar. In Großbritannien gibt es rund 30 Millionen ArbeitnehmerInnen. 12 Millionen sind LeiharbeiterInnen – und das auf allen Ebenen bis hin zu Führungskräften. Ca. 950.000 Menschen haben sogenannte zero-hour-contracts: Sie haben einen Vertrag, der ihnen null Stunden Arbeit garantiert, sie müssen aber auf Abruf bereit sein. Viele dieser Verträge sehen auch eine Klausel vor, die verbietet, ein weiteres Arbeitsverhältnis einzugehen, weil sie sich in tatsächlichen null-Stunden-Wochen praktisch auch nicht arbeitslos melden können. Zero-hour-contracts kommen nicht nur im Handel und Tourismus vor, sondern auch in den Branchen der Sozialberufe und der Industrie.

Große Unsicherheit besteht im Gesundheitsbereich – für Beschäftigte wie für PatientInnen. Viele lokale Krankenhäuser wurden eingespart oder abgebaut. Das verbleibende Personal ist mit der Bewältigung der Arbeit massiv überfordert. Hinzu kommt, dass circa 10 % der 1 Million Beschäftigten der nationalen Gesundheitsdienstleistungen aus den EU-Ländern kommen. Sie leiden unter der Politik der Angst, weil sie nicht wissen, ob sie nach dem Brexit noch bleiben können.

Europäische Union garantiert Sozialrechte

Durch die Europäische Union genießen britische ArbeitnehmerInnen einen Schutz, den sie auf Grundlage nationaler Gesetzgebung nicht hätten. Dazu zählt etwa der unbezahlte Elternurlaub für drei Monate sowie Arbeitszeitregelungen (maximal 48-Stunden-Woche, 11 Stunden Pause, 20 Tage bezahlter Urlaub). Eine EU-Richtlinie garantiert, dass LeiharbeiterInnen nach zwölf Wochen Beschäftigung dieselben Bedingungen zustehen, wie in einem Normalarbeitsverhältnis. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Sicherstellungen in Bereichen von Gleichstellung und Gesundheit.

Ob eine konservative Regierung diese Sozialrechte nach einem Brexit tatsächlich beibehalten wird, ist anzuzweifeln.