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Ukraine: Einschränkungen grundlegender ArbeitnehmerInnenrechte

Der gesamten ukrainischen Bevölkerung widerfährt seit Beginn des russischen Angriffskrieges Ende Februar unfassbares menschliches Leid und Zerstörung. Die Beschäftigten im Land sind mit Invasionsbeginn enormen wirtschaftlichen und sozialen Folgen, aber auch drastischen Einschnitten ihrer fundamentalen Arbeitsrechte, ausgesetzt.

Arbeitslosigkeit, Gehaltseinbußen und Kriegsrecht

Laut Erhebungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind seit Kriegsbeginn ca. 4,8 Millionen Arbeitsplätze in der Ukraine verloren gegangen, was einer Arbeitslosenquote von ca. 30% entspricht. Löhne und Gehälter sind Schätzungen zufolge um bis zu 58% gesunken.

Die arbeitsrechtlichen Bestimmungen wurden durch das Gesetz zum Kriegsrecht (zeitlich begrenzt) seit Februar bereits stark eingeschränkt bzw. ausgesetzt. Durch einen kürzlich verabschiedeten Gesetzesbeschluss werden die Rechte von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften nun explizit und weiter eingeschränkt.

Arbeitsrechtliche Bestimmungen und kollektive Vereinbarungen außer Kraft gesetzt

Im Laufe des Sommers hat das ukrainische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das Beschäftigte in Unternehmen mit weniger als 250 MitarbeiterInnen (mehr als 70% der Arbeitskräfte!) diskriminiert und ihrer grundlegendsten Rechte beraubt.

Nationale arbeitsrechtliche Bestimmungen sowie bestehende kollektivvertragliche Vereinbarungen haben in diesen Betrieben prinzipiell keine Gültigkeit mehr. ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen wird nahegelegt, anstatt dessen individuelle Vereinbarungen abzuschließen. Ein weiteres im Parlament verabschiedetes Gesetz erlaubt es Unternehmen, bis zu 10 % ihrer Belegschaft mit Null-Stunden-Verträgen einzustellen (DienstnehmerIn soll nur dann tätig werden, wenn DienstgeberIn entsprechenden Bedarf hat, und wird nur für diese Stunden bezahlt).

Diese Gesetzesänderungen unterwandern fundamentale Rechte Beschäftigter und bereiten den Boden für einen Zwei-Klassen-Arbeitsmarkt. Für Betriebe werden wesentliche Anreize geschaffen, um große Unternehmen in kleinere juristische Einheiten aufzuspalten und dadurch systematisch das Arbeitsrecht sowie kollektive Vereinbarungen zu umgehen.

EGB Kritik: Gesetzesänderungen im Widerspruch zu europäischen Grundsätzen und internationalen Abkommen

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) kritisierte die ukrainische Regierung und das Parlament bereits im Vorfeld scharf für die Missachtung von Arbeitsrechten und des sozialen Dialoges. Man zeigt sich besorgt über die restriktiven Gesetzesänderungen, die den Grundsätzen des europäischen Sozialmodells, aber auch den Verpflichtungen aus ratifizierten Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) dezidiert widersprechen.

EGB-Generalsekretär Luca Visentini sieht auch die Europäische Union in der Pflicht: "Die ukrainische Regierung und das Parlament können nicht behaupten, der EU beitreten zu wollen, während sie die ArbeitnehmerInnen ihrer grundlegenden Rechte berauben. Die EU muss dies der ukrainischen Regierung und dem Parlament unmissverständlich klar machen.“

Ukrainische Regierung liebäugelte schon vor Kriegsbeginn mit neoliberalen Arbeitsrechtsreformen

Die nun beschlossenen Gesetzesänderungen wurden schon lange vor Kriegsbeginn entworfen und in Folge auch international immer wieder kritisiert. Die ukrainische Regierungspartei - der auch Präsident Zelensky angehört - verteidigte ihr Vorhaben stets und sprach von "extremer Überregulierung von Beschäftigung, die den Grundsätzen der Selbstregulierung des Marktes [und] des modernen Personalmanagements" widerspreche. Die Bürokratie im ukrainischen Arbeitsrecht schaffe "Hindernisse sowohl für die Selbstverwirklichung der Arbeitnehmer als auch für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitgeber", hieß es.

Unter Berücksichtigung weiterer geplanter Gesetzesinitiativen zur Deregulierung des Arbeitsrechts, scheint die langfristige Agenda der Regierung die radikale Liberalisierung des ukrainischen Arbeitsmarktes zu sein. Diese einseitig auf die Interessen der Unternehmen ausgerichtete Politik verfolgt das Ziel, internationale Investoren anzulocken. Den Preis dafür sollen die Beschäftigten in Form von Dumpinglöhnen und niedrigen arbeitsrechtlichen Schutzstandards bezahlen.

Plan für Wiederaufbau der Ukraine ohne Einbindung der Sozialpartner

Die ukrainische Regierung hat bereits einen Plan zum Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg ausgearbeitet. Im Zuge dessen gab es jedoch keinerlei Absichten, die Sozialpartner in die Entwicklung dieses Projektes miteinzubeziehen. Weder repräsentative Gewerkschaftsorganisationen noch nationale Arbeitgeberverbände waren an einer der eingerichteten Arbeitsgruppen beteiligt.

Diese Vorgehensweise ist insbesondere zu kritisieren, weil eine umfassende Überarbeitung der Arbeitsgesetzgebung Teil des Wiederaufbauprozesses sein soll. Die Beteiligung der Sozialpartnerorganisationen muss daher in entsprechendem Ausmaß gewährleistet werden.